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Ernst nehmen, was man selbst nicht glaubt

Das Hamburger Hexenarchiv im Völkerkundemuseum feiert Geburtstag: Zwanzig Jahre zwischen Wissenschaft, Glaube und Taktgefühl  ■ Von Heike Dierbach

Die Landwirtin ist extra aus Süddeutschland angereist, weil sie nicht mehr weiter weiß: Ihr Nachbar hat sie verhext. Das befürchtet sie zumindest. In den letzten Monaten häuft sich das Unglück: die Scheidung, der Zwangsverkauf von Land, und jetzt bekommt ihr Mann vielleicht auch noch das Sorgerecht für die Kinder. In ihrer Not wendet sie sich an das Hexenarchiv des Hamburger Museums für Völkerkunde.

„In solchen Fällen kann ich den Menschen nicht einfach sagen: Ist doch alles Quatsch“, erzählt Ethnologin Maren Tomforde, die das Archiv betreut, „ich nehme das Problem ernst, denn für die Frau ist es ernst. Sie war vollkommen verängstigt.“ Tomforde riet ihr, einen Schutzkreis aus Kerzen aufzustellen und sich mit einem Amulett gegen den Nachbarn zu schützen. Sie selbst glaubt nicht an Hexerei, betont die Wissenschaftlerin. Sollte der Schutzkreis der Frau nicht helfen, wird sie sie vielleicht an eine Psychotherapeutin verweisen – oder auch an eine „Neue Hexe“.

In dem Spannungsfeld zwischen Scharlatanerie und Wissenschaft arbeitete das Hexenarchiv, das am Sonntag seinen 20. Geburtstag feiert, schon vor seiner Gründung: Der Volksschullehrer Johann Kruse, dessen Sammlung 1978 den Grundstock für das Archiv bildete, wollte den neuzeitlichen „Hexenwahn“ bekämpfen. Er klagte habgierige Scharlatane vor Gericht an, half aber auch als Hexen verfehmten Frauen, die es bis in die 60er Jahre dieses Jahrhunderts vor allem im ländlichen Raum noch zahlreich gab.

Heute untersucht das Archiv den „Hexenglauben“, betont Wulf Köpke, Direktor des Museums, dessen Ururgroßmutter übrigens als „Hexe von Jork“ hohes Ansehen im Alten Land genoß. „Die Frauenbewegung hat den Begriff Hexe neu definiert“, resümiert er, „plötzlich kamen zu uns Frauen, die meinten: ,Wir sind Hexen und wollen unsere Geschichte kennenlernen.“ Eine von ihnen, die Hexe Attis (siehe Interview), wird am Sonntag den neuen Raum des Hexenarchivs magisch einweihen und „gegen böse Mächte schützen“.

„Viele Besucher kämen sonst einfach nicht“, gibt Köpke zu bedenken. Zum Beispiel jene Frau, die im Archiv einen uralten Totenschädel loswerden wollte – sie hielt dessen Energie nicht mehr aus. Heute ziert der Schädel die Vitrine mit den „Enthexungsmitteln“ im Archiv, neben aphrodisierenden Salben, Räuchermitteln, die noch vor 40 Jahren auf Bauernhöfen eingesetzt wurden, und Voodoo-Puppen. Der Hexenglauben ist weltweit verbreitet, weiß Köpke. „Und wenn zwei Milliarden Leute daran glauben, muß ich das als Ethnologe ernst nehmen“ – ohne daß er sich selbst dazu bekennt, betont der gläubige Christ. Mit solch einer „kulturrelativen“ Haltung würden sich gerade die Deutschen oft schwer tun.

Dennoch versuchen auch die EthnologInnen, die Spreu vom Weizen zu trennen. Wer durch Magie Schaden bewirken wolle, viel Geld für seine Dienste nehme oder verantwortungslos sein Wissen herumerzähle, sei ganz klar „unseriös“. Nicht nur Hexengläubige, sondern auch wissenschaftlich Interessierte werden in den rund 200 Aktenordnern des Archivs, die von „Hexen in China“ bis zur „Kräuterkunde“ reichen, fündig. Dort stoßen sie zum Beispiel auf das traurige Schicksal von Maria Cecilia Jürgens, die im Winter 1701 als letzte Frau in Hamburg verbrannt wurde, weil sie angeblich einem Wirt durch Zauberkünste geschadet hatte – und Lesbe war.

Im Hexenarchiv geht es auch fröhlich zu, etwa bei Kinder-Hexennächten und –geburtstagen. Seinen eigenen feiert das Archiv am Sonntag mit einem großen Hexentag zwischen 11 und 17 Uhr. Zahlreiche ZauberInnen zeigen ihre Künste in den neuen Räumen des Archivs, und das Museum präsentiert sein neues Buch: „Hexerei, Magie & Volksmedizin“. Der 1983 verstorbene Volkslehrer Johann Kruse hätte vielleicht mit einigen der neueren Aspekte des Archivs Schwierigkeiten, heißt es im Vorwort. Dennoch würde er wohl nicht bereuen, seine Schätze dem Museum überlassen zu haben, denn seine Maxime gelte nach wie vor auch für die Arbeit des Museums: Daß niemand mehr unter dem Glauben an Hexen „leiden“ solle.

Museum für Völkerkunde, Rothenbaumchaussee 64

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