: Mit Eleusine am Futtersilo
■ Die Flora in den Bremer Häfen ist so global wie ephemer. Eine botanische Führung
„Sah niemals einen Dampfer/ der arme Sauerampfer“ – wer würde sie nicht lieben, Morgensterns kleine lyrische Geschichte um Eisenbahn, Hochseeschiffahrt und letzte Versprechungen. Ist doch dem traurigen Vers vom vegetativen Beharren nicht nur die ganze Tragik einer am Bahndamm vergessenen rumex patentia eingedampft – der Trost ist ihr gleich mitgegeben: Im Reim aber, im Geheim', tanzt auch Du auf den Wellen des Meeres.
Geschichten vom Unkraut am Bahndamm und seinem Weh nach der Heimat begleiteten am vergangenen Samstag auch eine achtköpfige Crew vom Heidelberger Institut für systematische Botanik und Pflanzengeographie durch die Bremer Häfen. Und manche von ihnen endete abrupt wie das Leben. „Das“, sprach die Bremer Führerin Ragna Mißkampf, „ist das Große Liebesgras“. Senkte den Kopf, senkte die Stimme und wiederholte: „Das war das Große Liebesgras.“ Da hatte sich der junge, hübsche Markus Sonnenberger schon hinunter gekniet, zwischen Güterwaggon und umgestüzter Positionslampe, und hatte das Große Liebesgras abgeknickt. Blümlein, Blümlein, Blümlein, fein. Sorgsam hob der Herbarkustos das Pflänzchen in die Plastiktüte, bevor er im Bus seine Freundin küßte.
Ragna Mißkampf ist ein schöner Name. Wie Christian Morgenstern oder Markus Sonnenberger. Mit zwei großen Bestimmungsbüchern war sie vor zwei Jahren losgezogen und hatte sich in den Bremer Häfen Freunde mit tausend mal schöneren Namen gesucht: Die Eleusine Africana und die rotstämmige Dornmelse waren ihr am Fuße von Gustav Schieles Vogelfuttersilos begegnet, der Weiße Gänsefuß war da, am Rain, mit Hasenbrot (daneben, oh Wunder, ein angenagtes Karnickelskelett) und Zurückgeschlagenem Fuchsschwanz. Und auch die Beifußblättrige Ambrosia hatte es auf dem weiten Weg von Amerika ins graue Bremen verschlagen. Namen, lauter Pflanzennamen, fast dem Mythos entsprungen, wie einst die rosenfingrige Eos und der hundsgemein listige Odysseus – fast. Doch aus den Bremer Häfen werden (anders als Odysseus) wohl weder die äthiopische Eleusine, noch die nordamerikanische Ambrosia je wieder nach Hause zurückfinden.
Doch was des Einen Leid, sei des Andern Freud. Ragna Mißkampf hat sie alle besucht und ein Buch darüber geschrieben: die „Floristisch-ökologische Untersuchung der Spontanflora im Bremer Hafen unter besonderer Berücksichtigung der anthropochoren Pflanzen, Januar 1997“. Man sieht ihre Freude hinter den großen Brillengläsern blinken, wenn sie im hohen Gras hinter dem Vogelfuttersilo zügig an einem wackeren Canabis-Pflänzchen und den unter Brennesselhut blaublühenden Leinsamen-Blümchen vorbeischwebt, um ihrer Heidelberger Botaniker-Crew die wahren, krautigen Schätze des runden Globus zu kredenzen.
„Bromus uniologikus“ murmeln diese im Chor und: „simplium vulgare“. Und jetzt – endlich – sind sie richtig beeindruckt. Wie einst Goethe der Pflanze an sich – jener „Sarabande des Wachsens, Blühens und Zerfallens – Choreographie symbolischer Gesten“ – so huldigten nun acht Heidelberger Botaniker hinter Gustav Schieles Vogelfuttersilo dem Unkraut.
Der Eleusia, der Ambrosia, der Iva xantefolia und wie sie alle heißen. Als Samen waren sie vor nicht allzulanger Zeit in großen Vogelfuttersäcken über die Weltmeere geschippert, um sich schließlich fidel aus den Bremer Silos auf die Brachen zwischen den Gleisen rundum pusten zu lassen. Warm war es zwischen den Lagerhäusern, Speichern: der richtige Ort für ein kurzes Einwandererleben ohne Nachkommenschaft und Antrag auf Neubürgerschaft.
Adventivpflanzen werden sie in fast biblischer Ehrfurcht genannt: „die Angekommenen“. Für die Heidelberger Flora-Geographen um ihren Professor Peter Leins, die just mit lauter Pflanzenphysiologen und Chemikern eine harte Bremer Kongreßwoche hinter sich gebracht haben, sind die so fremdartig wie unscheinbar anzusehenden Unkräuter Erscheinungen verschwenderischen Glücks im pietistischen Alltag: Multikult auf einer hundert Quadratmeter großen Industriebrache.
Ein seltener Anblick, selbst für diese acht weitgereisten Soziologen unter den Botanikern. Streng wie Emile Durkheim registrieren sie in ihrem Heidelberger Alltag Wind-, Regen- und Insektenbestäubung – die Reproduktion der Arten – und pedantisch wie die Saint-Simonisten beobachten sie die vorsichtige Dynamik ökologischer Gesellschaften im Rheindelta und auf dem Fudjiama. Das aber, sagt der Ausbreitungsbotaniker und Doktor Wolfram Emig, das sei alles Ökonomie: „Blüten sind nicht dazu da, den Menschen zu erfreuen, sondern Insekten anzulocken.“
Bis dann eines Tages ein Mensch nach Amerika kam, sich die Samen rauspickte und sie als Vogelfutter aufs deutsche Containerschiff lud. Seitdem herrscht in Bremens Häfen zwischen den Gleisanlagen und den Pflastersteinen die Ökonomie der reinen Verschwendung: schnellebig, interkulturell und ständig bedroht von einer Machtübernahme durchs stinkende Greiskraut, durch den Staudenknöterich oder die Poa compressa. ritz
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