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Sie müßten doch nur eine Spinne sein

■ Eigentlich könnten Online-Journalisten Presse, Radio und TV vereinen und durch Verknüpfungen ein Metamedium erschaffen. Doch häufig vertun sie die Chance und bereiten mit einfallslosen Kombinationen da

Ein Netz sollte es sein, das World Wide Web, in der Vorstellung seiner geistigen Väter Tim Berners-Lee und Ted Nelson. Ein Informationsgeflecht, geknüpft über Hyperlinks aus Millionen Dokumenten. Herausgekommen ist eher ein schier endloses Treibnetz, in dem sich alles verfängt. Vor allem Nutzer, die Informationen suchen.

Einen guten Teil tragen täglich Journalisten dazu bei, indem sie uninspiriert ihre eigenen kleinen Maschen ins Netz knüpfen. Eine rechts, eine links, einmal vor und wieder zurück. So wie die Cursortasten es vorgeben. Netzpuristen verteidigen dieses Vorgehen: Es sei der wahre Charakter des Netzes, daß alle Bestandteile hierarchielos für sich stehen und sich potentiell mit allen anderen verknüpfen lassen. Klingt also politisch korrekt. Und weil es auch so einfach ist, sehen die Online-Ausgaben der Printmedien dementsprechend aus.

Die vier Cursortasten prägen die langweilige Struktur, in der die Online-Journalisten das Weltgeschehen aufbereiten. Der User klickt sich vom Rubrikenmenü zum Artikelverzeichnis, springt in den Text und landet mit dem Backbutton wieder am Ausgangspunkt. Einmal die Netzmasche abgelaufen. Wie schön. Dann kann der User das Spiel wiederholen, bis es zu langweilig wird, sich im Viereck herumzuklicken.

Journalistisch gesehen ist das eigentlich ein einziges Ärgernis, denn es wird der Bedeutung nicht gerecht, die das World Wide Web inzwischen hat. Vor allem zeugt es von Bequemlichkeit und Einfallslosigkeit der Journalisten. Sie mißbrauchen den Bildschirm einfach als Zeitungspapier. Dabei ist das WWW längst auf dem Weg zum vierten Massenmedium. Mit dem entscheidenden Unterschied, daß es ein „Metamedium“ ist: Es kann Print, Rundfunk und Fernsehen simulieren, in sich vereinen, sie verknüpfen und dadurch über sie hinausgehen. Doch genau diese Chance wird verpaßt, weil die Online-Journalisten in der Treibnetz- Analogie gefangen sind. Online- Zeitungen/-Sendungen – ein eigenes Wort gibt es dafür noch nicht –, die das Web ernst nehmen, müßten wie ein Spinnennetz organisiert sein: mit sternförmigen Fäden, die von einem Zentrum ausgehen und durch ringförmige Fäden miteinander verbunden sind.

In Online-Ausgaben etablierter Druck-Erzeugnisse ist so ein Konzept nur ansaztweise anzutreffen. Kommentar, Nachricht, Hintergrundbericht und Originalquelle sind die verschiedenen Etappen, über die der Online-Journalist dem Benutzer Informationen nahebringen kann. Dabei können die Quellen Websites politischer Akteure sein oder eingescannte Aktennotizen, die beispielsweise einen Justizskandal ausgelöst haben. Das Wall Street Journal (www .wsj.com) bietet Video-Files von entscheidenden Pressekonferenzen als weiterführende Links an.

Am nächsten kommt dem erwähnten Konzept des Spinnennetzes bislang die Washington Post. Sie liefert zu einer wichtigen Nachricht, der „latest story“, einen Hintergrundtext. Dieser „Overview“ stellt das Ereignis in einen Zusammenhang, der seine Bedeutung verständlich macht, und wird von der Washington Post-Redaktion regelmäßig aktualisiert. Über den Link „Key stories“ gelangt man zu einem zeitlich geordneten Verzeichnis der wichtigsten Artikel, die zum Thema bis zu diesem Zeitpunkt erschienen sind. Schließlich gibt die „time line“ den chronologischen Gang der Ereignisse wieder.

Beispiel: die Online-Berichterstattung über die Asienkrise (www.washingtonpost.com/wp- srv/business/longterm/asiaecon/ asiaecon.htm). Der User muß da nicht lange nach alten Ausgaben suchen, die womöglich schon im Altpapierhaufen gelandet sind. Der Online-Journalist stellt einen Kontext zwischen verschiedenen aktuellen Nachrichten her. Gewöhnlich sind dies die klassischen Ressorts wie Inland, Ausland, Wirtschaft, Kultur oder Sport. Interessant wird es aber dann, wenn der Benutzer die Möglichkeit bekommt, sich selbst eigene Rubriken maßzuschneidern. „Personalize your own page“ fordern Wall Street Journal, CNN (customnews.cnn.com/cnews/pna_auth.welcome) oder Betreiber von Suchmaschinen und Web-Portalen wie Excite (www.excite.com) den User auf.

Indes sucht man bei deutschen Online-Zeitungen diesen Service bislang vergeblich. Dabei ließen sich auf diese Weise Rubriken schaffen, die dem User wichtig sind, weil er in ihnen die Welt wahrnimmt: Freizeit, Energie, Handwerk, schwules Leben, Biotechnologie... Das sind mehr als Eingaben in eine Suchfunktion, die irgendwo an die Startseite der Homepage angehängt ist. Sie verlangen vom Online-Journalisten allerdings eine durchdachte Indizierung der Text-, Video- und Audio-Dokumente.

Jedes Spinnennetz braucht eine Mitte. Das bedeutet: einen Punkt, an dem sich der User im Wust der Seiten einer Website orientieren kann. In diesem Zentrum müßte der Online-Journalist sitzen: Er ist in diesem Falle die Spinne, die mit ihrem Netz die Website überhaupt erst kreiert. Denn ohne eine solche brauchbare Orientierung wird sich der User über kurz oder lang linkzappend in die Weiten des Webs verabschieden. Orientierung kann der Online-Journalist teilweise durch verständliche Links zwischen den Dokumenten liefern.

Das klingt für Websites banal. Doch in den meisten Online-Diensten von Zeitungen oder Sendern beschränken sich Links auf die Verknüpfung zwischen Inhaltsverzeichnis und Dokument. Links aus Texten heraus sind offensichtlich immer noch Luxus.

Es wäre jedoch entscheidend, daß der Online-Journalist dem User eine intuitiv nachvollziehbare Site Map bietet, die jederzeit sichtbar bleibt. Anders ausgedrückt: Während der User auf den Fäden des Spinnennetzes herumkrabbelt, muß er das Zentrum erkennen können, nicht nur die vier Maschen rechts, links, vorne und hinten. Dazu müßte die Site Map eigentlich kontinuierlich eingeblendet bleiben. Doch über rudimentäre Wegweiser wie Menübalken oder Navigationsleisten kommen auch die fortgeschrittenen Online-Ausgaben von Washington Post oder Wall Street Journal nicht hinaus. Süddeutsche Zeitung, Spiegel-Online oder taz hingegen vertrauen auf das Gedächtnis des Users. Soll der sich doch erinnern, wie er zu einem Artikel gelangt ist – oder genervt eine andere Website aufrufen.

Die Chancen des WWW ignorieren viele Online-Journalisten, die eigentlich wie eine Spinne im Netz der Web-Informationen agieren müßten. Sie sehen die Website des eigenen Blattes oder Fernsehsenders schnöde als Pflichtprogramm modernen Medienmarketings. Würden sich die Journalisten auf das World Wide Web als eigenständiges Medium einlassen, dürften sie nicht länger nur schreiben, drehen oder sprechen, sondern wie ein Moderator vorgehen: die Dokumente entlang einem sternförmigen Faden so anmoderieren, daß ihr Zusammenhang für den User klar wird.

Gleichzeitig muß der Online- Journalist als Archivar fungieren. Denn soll der User selbst Rubriken auswählen, müssen die Dokumente ausreichend präpariert sein, um sich unter einem Aspekt zusammenzufinden.

Das Spinnennetz als Paradigma eines Online-Journalismus würde die vielbeschworene Interaktivität des Internets als infoanarchistischen Traum hinter sich lassen. Der läßt sich vielleicht mit künftigen, clevereren Suchmaschinen erfüllen. Aber genausowenig, wie der Zeitungsjournalist Flyer, Kladden und Notizen einfach bloß zusammenheften kann, sowenig kann der Online-Journalist einfach ein paar Web-Dokumente verlinken. Er muß daraus ein intelligentes Netz zusammenspinnen und den User hineinlocken. Niels Boeing

n.boeing@mailexcite.com

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