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Auf schwindelhohem Posten

Im einzigen nichttropischen Regenwald der Welt, im Nordwesten der USA, halten Jugendliche uralte Baumriesen besetzt, um sie vor der Holzindustrie zu retten. Einige kommen seit Monaten nicht mehr aus den Wipfeln, obwohl die Polizei fast nichts unversucht ließ. Aus Eugene, Oregon,  ■ Volker Weidermann

Sie heißen Pacific Ocean, Moonfox, Stinkie oder einfach D. Sie leben in Bäumen, seit mehr als einem halben Jahr. Sie verlassen die Bäume nicht. Denn als kürzlich doch mal einer von seiner Baumplattform in schwindelerregender Höhe von sechzig Metern herunterkam, wurde er umgehend festgenommen und Joy, der Baum, gefällt. Eine wohl vierhundert Jahre alte Douglasie. Das war der erste und bislang einzige Erfolg der Holzindustrie gegen die „Treesitters“, wie sie sich selber nennen, in diesem Gebiet der Cascade Mountains im Nordwesten der USA. Dumbo, Green Dream, Don und viele andere stehen noch. – Für immer, wie die Treesitter hoffen.

Man muß schon lange suchen, um sie zu finden. Von Eugene, der heimlichen Hauptstadt der amerikanischen Ökobewegung, der einzigen größeren Stadt in der Nähe des Protestes, fährt man anderthalb Stunden, einen guten Teil des Weges über schwer zugängliche Schotterpisten. Kurz hinter einem kleinen Sumpfgebiet geht es dann zu Fuß weiter, eine halbe Stunde einen mit rosa Wollfäden markierten Trampelpfad entlang. Der Wald ist stockdunkel. Uralte, mächtige Stämme, die Bäume so hoch und so dicht gewachsen, daß man die Wipfel nicht sieht. Lange, hellgrüne Moosschlingen hängen von den Ästen, verrottende Baumstämme liegen kreuz und quer. Ein Urwald.

Es ist der einzige nichttropische Regenwald der Welt, der sich in Amerikas Westen von Kalifornien bis weit in den Norden Kanadas zieht. Den rosa Wollfäden folgend, schlägt man sich also durchs Unterholz und denkt schon: Hier protestiert niemand. Hier kann niemand protestieren. Und wenn doch, wen interessiert's? Wie soll der Protest aus dem Riesenwald nach draußen dringen? Da hört man ferne Gitarrenklänge, irgendwo aus den Wipfeln. Dann fragen erste Rufe, wer man sei und ob man in freundlicher Absicht komme. Und dann sieht man auch das Basiscamp. Fünf Waldbewohner grüßen recht freundlich, nachdem man glaubhaft machen konnte, weder Baumfäller, Polizist noch irgendein Spion zu sein.

Sie sitzen auf umgestürzten Baumstämmen, löffeln etwas kalten Reis und warten. Warten auf den Feind: den Holzfäller und die Polizisten, die ihn begleiten werden. Sie sind die Versorger hier unten. Sie sorgen dafür, daß es ihren Leuten auf den Holzplattformen in den Baumwipfeln gutgeht, daß sie oben immer einen Proviantvorrat lagern, der für mindestens zwei Wochen reicht. Mehrere Plattformen sind in etwa sechzig Meter Höhe um die Stämme herumgebaut und mit einer Art Seilbahnsystem verbunden. Die Versorgung funktioniert über Flaschenzüge. Regelmäßig schallen irgendwelche Wünsche aus dem Himmel: daß man mal den „Shit-Eimer“ hochschicken solle, man wolle ja nicht einfach so in die Tiefe kacken, ob wohl noch etwas warmer Kaffee da sei und ob nicht mal jemand zu Besuch kommen wolle. – Nein, niemand will.

Die fünf Waldbewohner hier unten sind ein ulkiges Völkchen. Alle mit lehmverschmierten Kleidern und Gesichtern, aber so unterschiedlich, wie man nur sein kann. Vereint im Engagement für die alten Bäume und in einer romantischen Sehnsucht nach irgendeiner ursprünglichen Gemeinschaft. Stinkie will zum Beispiel, wenn der Kampf erst mal gewonnen ist, zusammen mit den anderen Baumverteidigern hier eine Landkommune gründen. Mit allerlei Tieren, einem Garten und einer kleinen Landwirtschaft, mitten im Wald, wo sonst niemand jemals hinkommt. Neue Heimat, fernab der feindlichen Zivilisation. Stinkie ist achtzehn. Seine Eltern starben, als er zwölf war. Seitdem ist er unterwegs, „auf Reisen“, wie er sagt. Hat ganz Nord- und Mittelamerika durchstreift, blieb nirgends länger als ein paar Wochen. Doch hier war er von Anfang an dabei: Für ihn ist das endlich mal ein Ort zum Bleiben.

Andere sind professionelle „Baumverteidiger“. Sie gehören zu einer Gruppe, die „The Cascade Tree Defenders“ heißt und die alle ähnlichen Aktionen in der Gegend koordiniert und mit organisiert. Für Moonwolf ist dies schon die dritte Aktion solcher Art. Die ersten beiden scheiterten, aber bei dieser ist er sicher, daß sie erfolgreich sein wird. Weil sie ausgezeichnet organisiert ist, sagt er, und zeigt stolz das weitverzweigte Tunnelsystem, das sie unter dem im Bau befindlichen Anfahrtsweg der Holzfirmen gegraben haben. Vorbild seien die Castor-Proteste in Deutschland gewesen. Sobald die Zufahrt fertig ist, wird ständig wenigstens einer der Protestierer in dem Tunnelsystem angekettet sein. Die schweren Waldfahrzeuge werden nicht passieren können, ohne den Protestierer unter sich zu begraben. „Das werden sie nicht wagen“, meint Moonwolf.

Doch die Holzindustrie hat in Amerikas Nordwesten schon einiges gewagt. Gerade in den Cascade Mountains in der Umgebung von Eugene sind ganze Berghänge kahlgefräst. Natürlich sagt man, schon in eigenem Interesse, Aufforstung zu. Aber vierhundert Jahre und mehr wird man dem neuen Wald kaum Zeit geben, bevor man ihn wieder nutzt.

Da hilft auch nicht viel, daß, nach einem örtlichen Forstplan aus dem Jahr 1990, alter Wald grundsätzlich als geschützt gilt. Die holzverarbeitende Industrie schert sich um diese Gesetze in ihren eigenen Wäldern wenig. Und die örtliche Aufsichtsbehörde weigert sich bislang standhaft, den bedrohten Wald als schützenswert anzuerkennen. So rücken die Rodungsmaschinen näher. Klar, daß in den Kreisen der Tree Defenders staatliche Waldschutzzusagen als klägliche Lachnummern betrachtet werden. Da verläßt man sich lieber auf die eigene Findigkeit und ist sicher, daß mit dieser Form zivilen Ungehorsams die Regierung gezwungen werden kann, ihre Zusagen einzuhalten.

Das große, Mut machende Vorbild der Baumschützer ist die einige hundert Kilometer weiter südlich protestierende Königin aller Baumsitzer: Julia Butterfly. Seit Anfang Januar schon lebt Butterfly allein in den Bäumen. Die Polizei hat fast alles versucht, sie aus den Wipfeln zu holen: von tage- und nächtelanger Beschallung mit megalauter Heavy-Metal-Musik bis zu heftigem Baumschütteln. Doch Butterfly wankt nicht. Und Sarah, Moonwolf, Stinkie und all die anderen – insgesamt sind sie eine Gruppe von etwa einem Dutzend – werden auch nicht weichen. „Drei Jahre vielleicht“, meint Pacific Ocean, der entschlossenste unter den Baumsitzern, könne die Belagerung wohl andauern.

Drei Jahre? Den meisten Waldverteidigern ist bei dem Gedanken nicht ganz wohl. Ihre Stimmung ist ein merkwürdiges Gemisch aus einer vagen Hoffnung, daß endlich etwas passiert, und gleichzeitig einer panischen Angst davor. Sobald sich die Rotorgeräusche eines Hubschraubers nähern, rennt die Besatzung des Basislagers aufgeregt in alle Richtungen des Waldes davon. Nur Moonwolf klettert in ein flaches Baumhaus auf einer kleinen Lichtung und versucht, den Hubschrauber mit einer Videokamera zu filmen. Doch der hat offenbar ein anderes Ziel und ist schon bald nicht mehr zu hören. Dann kehren sie, unverkennbar enttäuscht, zum Lager zurück. Man würde wenigstens gern beobachtet.

Doch plagen die jungen Protestierer auch Alpträume, die sie sich aufgewühlt erzählen: Von stürzenden Bäumen, wütenden Hunden und ihrer Festnahme träumen sie. Seitdem Joy fiel, treten die Träume immer häufiger auf. Joy wurde während einer der sogenannten Closures gefällt. – Wenn ein Waldgebiet von der Polizei „geschlossen“ wird, also die Schranken der Zufahrtsstraßen heruntergelassen werden, ist es illegal, sich in diesem Gebiet aufzuhalten. Offiziell dient es dazu, Wanderer vor umstürzenden Bäumen zu schützen. Hier wird es jedoch zum Vorwand genommen, die sich dann illegal in dem Wald aufhaltenden Protestler inhaftieren zu können. Beim letzten Closure hatten die Baumbesetzer ihre Plattform in Joys Wipfeln in Panik verlassen. Sie wurden kurzfristig in Gewahrsam genommen, der Baum wurde gefällt.

Das wird nicht wieder vorkommen. Das wissen Pacific Ocean, Moonwolf, Stinkie und auch Sarah. Wenn sie das nächste Mal auf Wipfelposten sind, kann man sich auf sie verlassen. Sie lassen Dumbo, Don und die anderen nicht im Stich. Das letzte Stückchen Urwald bei Eugene wird entschlossen verteidigt. Kein Baum mehr dem Feind!

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