Von der Bewegung eines Staubkorns

Pedro Luis Ferrers Lieder handeln von alltäglichen Problemen, vom Warten auf den Bus, von einer staatlich kontrollierten Presse. Das reichte, um in Kuba für zehn Jahre mundtot gemacht zu werden. Heute besingt er wehmütig beide Seiten der Revolution  ■ Von Uschi Entenmann

Er kommt kurz vor Mitternacht, angetrunken, in bester Stimmung, und pflanzt seinen dicken Hintern aufs Sofa, zielsicher zwischen die beiden karamelfarbenen Hübschen, die an ihn heranrücken. Der Gastgeber eilt herbei, ein Glas Rum und eine Gitarre in den Händen. Seine Frau stoppt den Tonarm des Plattenspielers, der mit einem letzten Salsaseufzer abkratzt. Dann herrscht ehrfürchtige Stille, die er nutzt, um sein Glas in halber Höhe des Bartgestrüpps abzukippen und mit einem bockwurstdicken Daumen die Saiten anzureißen. Ein scharfer Akkord über alle Saiten, und auf einmal diese Stimme! Ein überraschend heller Tenor, der sich aus dem vierschrötigen Kerl löst, glockenrein bis zum Diskant: „Como mi Cuba es siento por ciento cubano“ (mein Kuba ist ja hundertprozentig kubanisch...). Schon nach den ersten Takten zucken Füße, schnalzen Finger. „Mañana reservaré el mejor hotel de La Habana“ (morgen reservier' ich das beste Hotel von Havanna). Ja, den Spaß verstehen sie alle, dieses Spottlied auf die sozialistische Paradiesinsel.

Als ich den Sänger Pedro Luis Ferrer vor sechs Jahren kennenlernte, war die Situation noch schlimmer als heute. Kneipen und Restaurants konnte man in Havanna an einer Hand abzählen, selbst im Diplomatenviertel gab es nur einen Supermarkt, in dem ausschließlich der Dollar zählte und kubanische Kunden Gefahr liefen, verhaftet zu werden, weil der Besitz der US-Währung als konterrevolutionäres Delikt galt. Doch auch damals dröhnte am Abend aus fast jeder Wohnung Musik und Stimmengewirr durch glaslose Fenster, tanzten an Wochenenden Pärchen in knappen, ausgeblichenen Bikinis und Badehosen zur Musik aus Ghettoblastern am Strand Playas del Este. Der kubanische Schriftsteller Jesús Diaz, der inzwischen im Exil in Madrid lebt, sagte einmal: „Das Herz der kubanischen Kultur ist die Musik.“ Música popular, die volkstümliche Musik mit ihren vielen Facetten: der Mambo, Bolero und Rumba, alles Stilrichtungen, die sich wiederum miteinander vermischen.

Schon damals fiel mir Pedro Luis Ferrer auf, der in aller Munde war. Ein Volkssänger, der souverän alle Stile beherrschte und vermischte. „Abuelo hizo esta casa...“ (Opa baute dieses Haus unter enormen Opfern, er organisierte die Bauarbeiten, machte Pläne, gab sein Bestes). Als ich mir sein Lied über Opa Paco zum ersten Mal anhörte, zischte die Nachbarin von oben über den Balkon, ich solle leiser drehen. Denn mit diesem Opa Paco, den man „um Erlaubnis fragen muß, wenn man auch nur ein Staubkorn bewegen will“, war der máximo lider gemeint. Und: „Vergiß nicht, daß Opa einen Revolver hat und ein Messer, und solange man ihn nicht entwaffnet, ist Opa gefährlich.“ Seit der Zeit ist Pedro Luis stiller geworden, immer noch ein Star, der zwar zehn Jahre nicht mehr auftreten durfte, doch durch die staatliche Künstlervereinigung UNEAC nach wie vor 350 Pesos im Monat erhält – womit er zu den Besserverdienenden in Kuba gehört. Eine absurde Spielart des Fidelismus: „Sie zahlen, ohne zu zahlen, denn das Geld ist nichts wert.“ Gerade drei Hähnchen könnte er davon kaufen. „Hier bekommen alle Geld, ohne zu arbeiten.“ Ob Musiker, Installateur oder Schreiner, alles wurde zugeteilt. Gitarren, Verstärker, Kongas, Saxophone, zumindest solange der Staat regelmäßig Subventionen von den sozialistischen Bruderstaaten bezog.

Die sind längst versickert, doch die Spitzel sind geblieben, von der Stasi der Ex-DDR geschult und überall auf der Lauer, wo er seine pointierten Balladen über Flüchtlinge singt, die per Floß via Miami abtauchen, oder über Mädchen, die sich für ein paar Dollar vor den Luxushotels Havannas anbieten. Sie wandern, zigfach auf Kassetten kopiert, von Hand zu Hand. Opa Paco läßt es zu. Ist er taub geworden? Der Barde zuckt mit den Achseln und deutet vielsagend auf die beiden Luxushotels, die in der Nähe seines Hauses am Strand stehen. Zwei von vielen. Tourismus ist zur wichtigste Einnahmequelle, der Dollar endgültig zur eigentlichen Währung der Insel geworden. Touristen, die Devisenbringer, geben den Ton an.

Wer ihn in der Calle 36 besuchen will, sollte vorher anrufen. Denn meist arbeitet Ferrer im Studio, komponiert mit Gitarre oder E-Piano wie ein Besessener Filmmusik, Balladen und Orchesterwerke und hört kein Klopfen und Rufen. Die einst prächtige Villa im Kolonialstil ist heruntergekommen, der Putz längst abgeblättert, sein Moskwitsch hinterm Gitterzaun ein Schrotthaufen. Es geht ihm schlecht, denn Tantiemen für seine Musik, die auch in anderen lateinamerikanischen Ländern gespielt wird, erreichen ihn nicht.

Auf der Terrasse gab er früher Radio- und Fernsehinterviews, debattierte mit Musikerkollegen, soff mit Bandmitgliedern. Dann wurde er plötzlich zehn Jahre totgeschwiegen. Erst allmählich ändert sich das wieder. Das staatliche Fernsehen holt ihn wieder auf den Bildschirm, eine exilkubanische Plattenfirma aus New York nahm ihn jetzt unter Vertrag.

„Hast du damals an die Revolution geglaubt?“ frage ich. „Ich war begeistert von der Revolution“, bekennt er, „so wie jeder.“ Eine gute Sache, wenn Reiche mit Armen teilen müssen, wenn sich jeder Schule und Arzt leisten kann. Seine Lieder priesen Fidel Castro, als er noch nicht Opa Paco war. Der Revolutionär Ferrer sang sie in aller Welt, gab Konzerte in Polen, Deutschland, Norwegen, Spanien und Lateinamerika, erntete sogar einen Orden, als er während des Angolakrieges in Afrika die heimwehgeplagten kubanischen Soldaten musikalisch aufrüstete.

Über den Knick in seiner Karriere spricht er nicht gern. „Es war in den siebziger Jahren, als das Kubanische Institut für Radio und Fernsehen meine Lieder nicht auf Sendung nahm.“ Lieder, die von alltäglichen Problemen erzählen, vom Warten auf den Bus, von der kontrollierten Presse. Bei einem Konzert erwähnte er Celia Cruz, die große, alte Dame des kubanischen Salsa, die „einen wichtigen Teil zur kubanischen Kultur beigetragen hat, auch wenn sie in Miami lebt und keinen Hehl aus ihrer wenig vorteilhaften Meinung über Castro macht“. Damit ging er den Ideologen Castros schon zu weit. „Sie ließen in Havanna verbreiten, daß ich mich ins Ausland absetzen werde und meine Lieder fortan auf Kuba verboten seien. So sind ihre Mittel und Wege. Sie machen Leute groß, und sie demontieren sie auch wieder.“

Einmal durfte er noch auftreten. Von diesem legendären Konzert im Kino Acapulco vor zehn Jahren reden die Habaneros, dankbar für jede Abwechslung, heute noch. Von der Bühne weg sei er verhaftet worden, hat mein Nachbar Ramón erzählt. Lange saß er danach im Gefängnis, weiß seine Frau Irene. Er sei nicht mehr in Kuba, flüstert mir Ana, die Krankenschwester von gegenüber, zu, der wurde abgeschoben, si, si, rausgeschmissen!

Pedro Luis lacht. Er kennt seine Landsleute und ihre Liebe zu Klatsch und Dramaturgie. „Ich war nie im Gefängnis.“ Aber warum zum Teufel haut er nicht wirklich ab? Gelegenheiten hatte er. Zum Beispiel seine erste Reise zu seinem Bruder nach Miami vor drei Jahren. „Es ist auch mein Land und meine Revolution. Die Exilkubaner dort nehmen es mir übel, daß ich wieder nach Kuba zurückkehrte.“ Die Revolution habe eben schöne und schlechte Seiten: „Ich besinge beide. Es ist wie mit dem eigenen Kind, man schimpft es aus und liebt es trotzdem.“

Wir steigen um auf Rum. „Viele Künstler und Intellektuelle gehen.“ Wie Schriftsteller Jesús Diaz, der sich während eines Deutschlandbesuchs kritisch über das System geäußert hatte und deshalb nicht mehr zurück durfte. Der Schriftsteller Cabrero Infante ging schon vor fast vierzig Jahren, voller Haß, der sich in sein Gesicht eingegraben hat, und wartet in London auf Castros Ende. Arturo Sandoval, der Weltklassetrompeter lebt im Exil in den USA. Ferrer: „Ich mache Musik gegen den Caudillismo, für die Demokratie. Jetzt erst recht!“

Er weiß, daß er damit seine Freiheit, vielleicht sein Leben riskiert, wenn diese Musik zu laut wird. Wie jetzt, als er sich auf die Hafenmauer setzt und „Metamorfosis del Contrario“ anstimmt, eines der neuen Lieder. Er singt von denen, die glauben, um ihre Freiheit zu kämpfen. Die Zeit vergeht, und irgendwann merken sie, daß sie auf der falschen Seite sind.

13. 9. Schorndorf

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27. 9. Lindau

30. 9. Düsseldorf

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6. 10. Köln