: Historischer Endpunkt Kohl
■ Neue Freiheit. Keine Jobs. Schönes München. Stillstand: Josef Bierbichler gibt im Malersaal sein Regiedebüt mit einer trotzigen Achternbusch-Uraufführung
Es geht um die Sache mit Kohl. Kohl ist der, der „Weltklasse für Deutschland“ ist, was erstmal wie ein Superlativ klingt, aber durchaus auch als relative Beschreibung gelesen werden kann. „Alle Deutsche sind kleine Kohls“, sinniert Cornu, der Franzose, „und weil alle Deutschen kleine Kohls sind, ist Helmut Kohl ein großer Deutscher. Meint er.“ Cornu meint das nicht. Hick, der Amerikaner, meint das auch nicht. Seit ein Polizist auf dem Münchner Marienplatz ihn darüber aufgeklärt hat, daß der Bundeskanzler daran schuld sei, daß in den öffentlichen Abfalleimern nichts mehr zum Privatgebrauch zu finden ist, trägt er ein Schild mit hohem Identifikationspotential vor sich her: „Befreit mich von Helmut Kohl!“
Neue Freiheit. Keine Jobs. Schönes München. Stillstand lautet der Titel des letzten Films von Herbert Achternbusch, der vergangenes Jahr auf der Berlinale gezeigt wurde, dann in den Münchner Kammerspielen lief und seit- dem nicht mehr zu sehen war. Jetzt produziert das Deutsche Schauspielhaus eine Bühnenversion. Für Josef Bierbichler, der mit der Uraufführung zur Spielzeiteröffnung sein Regiedebüt gibt (neu! neu! neu!), eine Art Selbstverständlichkeit. Als er das Skript seines bayrischen Freundes las, wußte er einfach, „daß man das im Theater besser machen kann“.
Was sich für eine Bühnenversion anbietet, ist die Tatsache, daß das ganze Stück am selben Ort spielt. Schwierigkeiten machten die exzessiven Traumversionen, die „fiktive Urzeitmenschen“ beim Erschaffen einer besseren, vielleicht auch nur bequemeren Welt zeigen. Und die Schnitte. Sie werden, so Bierbichler, mit „theatralischem Atem“ kompensiert. „Es gibt keinen Plot, nur eine Situation. Das kann nur funktionieren, wenn der innere Atem der Schauspieler mitmacht. Wir bewegen uns immer an der Grenze zur Langeweile, aber zur gepflegten Langeweile.“ Der reale Ausgangspunkt, im Titel erschöpfend zusammengefaßt, und seine Inszenierung „als Spielversuch“ haben für Bierbichler in der Zusammenarbeit mit der Dramaturgin Stefanie Carp, dem Musiker Andreas Lechner und der Bühnenbildnerin Anna Viebrock „zu einer Poesie geführt, die letztlich immer mein Thema war“. In diesem Sinne seien Regie und Schauspiel das gleiche: „Man darf nichts herbeizwingen. Ein guter Text wächst von selber. Wenn es klingelt, muß man hinhören. Und dann vermitteln.“
Das Stück bewegt sich im Spannungsfeld von Stillstand und dem Traum vom Fortschritt. Warum waren die Steinzeitmenschen eigentlich nicht zufrieden? Warum passiert heut' nichts mehr? Behauptungen werden aufgestellt, die meisten so abstrus wie von Achternbusch zu erwarten. Mit Wahlkampf, stellt Sepp Bierbichler klar, der ein großer Unterstützer von Schlingensiefs Partei Chance 2000 ist, soll das ganze nichts zu tun haben. Kohl sei nur eine Chiffre für einen historischen Endpunkt, den man benennen könne: Das Ende der sozialen Strukturen. „Alle sagen ,Der Kohl muß weg.' Als würde was anders, wenn der weg ist.“
Christiane Kühl
Premiere: Freitag, 18. September, 20 Uhr, Malersaal
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