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: „Kinderland ist abgebrannt“: Sibylle Tiedemanns Dokumentarfilm

Natürlich habe sie manchmal Heimweh nach „the Alps“, sagt die 70jährige mit dem kurzen, kaum ergrauten Haar. Chicago sei schließlich nicht Blaubeuren. Aber zurückkehren nach Deutschland, und sei's nur für einen kurzen Besuch, das komme für sie nicht in Frage: „Wo man mich hinten rauswirft, da gehe ich vorne nicht mehr rein.“

Die Jüdin, die in einer Mischung aus Englisch und Schwäbisch erzählt, ist in Ulm geboren und zur Schule gegangen. Noch nicht volljährig, mußte sie emigrieren, zunächst nach Schottland, später in die USA. Sie ist eine von zwölf Frauen, mit denen die Filmemacherin Sibylle Tiedemann für ihre Dokumentation „Kinderland ist abgebrannt“ gesprochen hat. Jede der heute 70- bis 75jährigen stammt aus der süddeutschen Kleinstadt; etwa die Hälfte teilt die Erfahrung von Verfolgung, Emigration und Neuanfang; die übrigen durchlebten, was im Nationalsozialismus eine gewöhnliche Jugend war: Mitgliedschaft im BDM, Landausflüge, Ferienlager, später Arbeitseinsätze und blinde Begeisterung für die Siege der Deutschen. Noch heute ist von Distanz zur eigenen kleinen Verstrickung wenig zu spüren. Eine von Tiedemanns Gesprächspartnerinnen erinnert sich fast schwärmerisch an die Ausflüge und Arbeitseinsätze im BDM. „Es läuft sich auch besser im Gleichschritt“, sagt sie, „man wird nicht so müde, und keiner trottelt hinterher, sondern man ist in der Gemeinschaft.“ Andere Frauen singen zeitgenössische Lieder nach oder zählen die Gefallenen, während sie Fotografien aus Tanzschultagen betrachten. Was mit den jüdischen Mitschülern geschah, bleibt in den meisten Erzählungen ausgespart.

Tiedemann läßt die Frauen reden. Selten unterbricht sie, um eine Frage zu stellen, eines Kommentars enthält sie sich ganz. So blitzen nur Fragmente von Biographien auf; ganze Lebensläufe sind nicht zu verfolgen. Den Interviewsequenzen wird zeitgenössisches Material zur Seite gestellt: Bilder aus Wochenschauen, Fotografien. Manchmal fängt die Kamera Szenen aus dem heutigen Ulm ein, kontrastiert sie mit den Aufnahmen der ausgebrannten Altstadt oder heimeliger Fachwerkwergassen, durch die Naziaufmärsche ziehen. So kommt ein ruhiger Film zustande, mit einem genauen Blick auf den Alltag im Nationalsozialismus und darauf, wie dieser Alltag heute erinnert wird. Cristina Nord

„Kinderland ist abgebrannt“. Regie: Sibylle Tiedemann, D 1997,

90 Min. Im Klick und den Hackeschen Höfen, siehe cinema-taz