: Kein Mitleid mit Regenwürmern
■ Das Trio Scheibe/Klüver/Fritsch: Seltsame Wesen, Menschen vermutlich, singen und jaulen im Jungen Theater Geschichten unter anderem aus Tamaras Hotel
Trotz „Liebe Sünde“ und „Wahre Liebe“: Sadomasochisten haben es schwer auf dieser Erde. Insbesondere dann, wenn es sich bei ihrem liebsten Lustobjekt um ein Teesieb handelt: Nirgends lassen sich Handschellen anbringen. Und spüren Teesiebe überhaupt Peitschenhiebe? Trotzdem kommen ihre Herrchen gelegentlich zu stöhnender Erfüllung. Dann hüpfen sie besorgniserregend auf wackeligen Stühlen herum.
Aber auch Regenwürmer haben es nicht leicht. Da recken sie kurz mal ihre Schnauze hoffnungsselig und abenteuerlustig aus dem Erd-reich hervor, schon werden sie gepflückt und gebraten. Zur Spezies der erbarmungswürdigen Geschöpfe zählt aber auch Sabine. Kaum trennt sie sich von ihrem Lover, branden die widerwärtigsten Liebeslieder zum Zwecke der Rückeroberung auf sie ein. Das klingt fast so furchterregend wie BAP. Somit stellt sich unweigerlich die Frage, ob nicht das einzige glückselige Geschöpf in unserem kleinen Weltall jener greise, andalusische Bauer ist, der neulich eine enge Seelenfreundschaft mit einer Runzelkartoffel schließen durfte – rein platonisch natürlich. Ansonsten regiert Melancholie. Das ist schlimm. Doch „Die feinen Herren“ Mark Scheibe, Jan Fritsch und ein gewisser Herr Klüver, der das Vergnügen hat, nicht Bernd zu heißen, sondern mit dem großen Artmann das H.C. zu teilen, geben ihr Bestes, um ihr Publikum trotz dieser Dramen des Daseis vor dem kollektiven Selbstmord zu bewahren. Sie ernten brandenden Applaus.
Zu den poetisch-gewalttätig-abstrusen, rauschgiftgeschwängerten Geschichten im Stile eines Boris Vian (der war auch Jazzmusiker und Dadadichter) bliesen die Herren nicht Trübsal, sondern Swing, Boogie-Woogie, Ragtime, umrankt und durchtrieben von absonderlichen Tönen, wie sie gemeinhin den Mägen erstickender Babies entströmen. Wie es zu diesen erbarmungswürdigen Geräuschen kommt, erzählt ein gewisser Herr Fein in seinem autobiografisch fundierten Mini-Roman „Die Feinen Herren in Tamaras Hotel“. In diesem nächtens blitzschnell hingeworfenen literarischen Glanzstück voller Fußnoten, Anhängen, Umwegen, Abschweifungen und anderen Aberrationen erzeugt eine alte Dame mittels Geist-Fleisch-Wandler Biomasse von höchst fragwürdiger Qualität. „Ein Fetzen davon gelangt in Herrn Klüvers Saxophonkoffer und veränderte sein Spiel aufs Ungeheuerlichste. Was früher einmal Melodien waren, sind dann üppige dreidimensionale Gebilde, die einen richtig fertigmachen können.“ Nun also kennen wir das Geheimnis von Bremens kultisch verehrten Vertretern eines libertinären Jazz.
Leider weigern sich die feinen Herren, ein Stückchen dieser Biomasse zu verkaufen. Schließlich wollen sie die Patentrechte auf ihren innig-ironischen, mal träge dahinschunkelnden, mal orgiastisch ausrastenden Ton nicht aufs Spiel setzen. Großzügig hingegen werfen sie im Jungen Theater mit Schallplatten (plus beigelegten Noten zum Mitrumoren), Romanmanuskripten, Postkarten und Nasenflöten um sich.
Mit tatkräftiger Unterstützung jenes Instruments, das vermutlich aus einer verkümmerten Atemschutzmaske hervorging, erfährt man etwa, wie es klingt, wenn ein Rastamann unter Text-Amnesie leidet. Außerdem zeigt Herr Fritsch, was passiert, wenn er nach Einnahme von drei Valiumtabletten und nach Verschlucken einer Fahnenstange die Wiedergeburt als Jimi Hendrix anstrebt. Aber was soll's der vielen Worte: ein entzückender Abend eben. Da kann man sogar von der bewährten Faustregel Abstand nehmen: Meide alle Menschen, die von vielen Talenten – Schauspielerei, Literatur, Musik – geplagt sind. bk
Junges Theater, täglich bis Sonntag, 20h
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