: Stahlharte Exekution
Martin Kusejs Inszenierung der „Geschichten aus dem Wienerwald“ am Thalia Theater ■ Von Dirk Knipphals
Die Bühne ist leer und von drei hohen Mauern umgrenzt. Quer hindurch führt ein kleiner Fluß. Das soll die Donau sein, die schöne, die blaue; es wirkt aber eher wie ein Abwasserkanal. Ein Ort zum Leben ist das hier nicht. Aber für drei Minuten bietet dieser Ort ein Weltklassebild. Wasserspiegelungen sind auf einen Gazevorhang zwischen Zuschauerraum und Bühne projiziert. Leonard Cohen singt einen herben Walzer. Wir sehen zu, wie ein Kind ertränkt wird, beinahe zärtlich. Ein Bild, so fern, so entrückt wie ein Traum. Oder als befänden wir uns auf dem Grund eines Schwimmbades. Nun könnte das Stück also beginnen.
Das sind die ersten drei Minuten in Martin Kusejs Inszenierung von Ödön von Horváths Volksstück Geschichten aus dem Wienerwald, die Samstag die Saison im Thalia Theater eröffnete. Es sind großartige 180 Sekunden. Doch dann folgen 180 Minuten und mehr nach - dreieinviertel Stunden dauert die Inszenierung -, und aus der Entrückung fällt man ziemlich unsanft in die Enge eines strengen Theaterkonzepts.
Martin Kusej, 1961 geboren, steht innerhalb der Riege unserer (nicht mehr so ganz) jungen Theaterregisseure für ein stahlhartes Interpretationstheater. Die Stücke, die er inszeniert, will er sich und seinem jeweiligen Ansatz unterwerfen. Und so hat er nun Horváth und seine 1931 uraufgeführten Geschichten aus dem Wienerwald gehörig gegen den Strich gebürstet.
Von Wiener Gemütlichkeit ist natürlich sowieso nichts mehr zu sehen. Von den Nöten und der Enge einer Kleinbürgerexistenz, die die Horváthschen Figuren wie unter Dampf stehend macht und diffus nach Fluchtmöglichkeiten suchen oder sich selbst zerfleischen läßt, aber auch nicht. Kusej hat Horváths Stück aus all seinen Bezügen herausgelöst und läßt es nun von den Schauspielern wie neben sich stehend exekutieren.
Als Experiment (sowie als Gegenentwurf zu Christoph Marthalers Horváth-Inszenierung Kasimir und Karoline am Schauspielhaus) hat das ganze unbestreitbar große Strenge und strenge Größe. Aber: keine Poesie, nirgends. Witz nur ansatzweise. Berühren soll die Inszenierung den Zuschauer wohl nicht und tut es auch nicht. Und es gibt wenig Raum für die Schauspieler, sich zu entfalten. Es ist ein kalter Blick, den Kusej auf die Figuren wirft, die sich zwischen Liebesverrat, Geilheit und Gefühlskälte winden.
Vor allem die Schauspielerinnen im Thalia-Ensemble ziehen bei diesem Konzept bis zur Selbstverleugnung mit. Sylvie Rohrer spielt die Marianne, die vor einer Hochzeit in die Arme eines anderen flieht, von ihm ein Kind bekommt und verlassen wird, als hätte sie die ganze Zeit über eine Maske auf. Elisabeth Schwarz gibt die Großmutter, die das Kind ertränkt, als perfide Hexe. Und Hildegard Schmahl zuckt und lacht als Valerie, die gealterte Liebessüchtige, die junge Männer aushält, zu oft exaltiert. Immerhin aber gibt sie im letzten Drittel der Inszenierung noch so etwas wie Drive. Die Männer verbleiben sogar noch mehr im Status von Abziehbildern, auch wenn Peter Roggisch als Mariannes Vater jede Chance zum Kalauer nutzt.
So weit weg wie hier waren Horváths Figuren bislang wohl noch nie. „Schlimmer als tot, nämlich wie tot“, wollte Kusej sie laut Programmheft inszenieren. Das ist ihm gelungen, unter hohen Verlusten.
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