Aufstieg und Niedergang einer Utopie

■ Die erste umfassende postmortale „Geschichte der Sowjetunion 1917–1991“ liegt vor

Der deutsche Historiker Manfred Hildermeier hat ein wahrhaft gigantisches Buch geschrieben. Fast 1.100 Textseiten umfaßt die erste deutschsprachige Gesamtdarstellung der 74 Jahre, die es gebraucht hat, bis das wohl größte utopische Experiment, das die Welt bisher gesehen hat, endgültig gescheitert war. Wohl kein anderes Regime und Reichsgebiet von dieser Dimension hat sich so still und leise aus der Geschichte verabschiedet. Der tschechisch-kanadische Schriftsteller Josef Skvorecky hat dazu einmal die treffende Formel vom „wimmernden Fall des Kommunismus“ geprägt.

Hildermeier stellt eindringlich dar, wie der Sowjetkommunismus (nach der sowjetischen Diktion „entwickelter Sozialismus“) zu verfallen begann: in einem historischen Augenblick, als er zum erstenmal nicht mit einem Ausnahmezustand konfrontiert und offenbar auch nicht mehr in der Lage war, diesen Ausnahmezustand aus sich selbst heraus zu produzieren.

Das war in der Zeit Breschnews. Die Verwüstungen des Zweiten Weltkriegs waren einigermaßen beseitigt, und damit, so hätte man vielleicht meinen mögen, hätte eine Art Normalität und Konsolidierung des Systems eintreten können. Was eintrat, war der endgültige Kollaps einer Wirtschaftsform, die auch in den Jahrzehnten vorher nur dadurch hatte überleben können, daß sie den eigenen Grundsätzen in einem gewissen Ausmaß untreu wurde. Zu keiner Zeit war die Sowjetunion imstande gewesen, sich mehr als kümmerlich zu ernähren, und auch das nur mit Hilfe des berühmten halben Hektars Privatland, das jedem Kolchosbauern zugebilligt wurde. Die Versorgung der Bevölkerung mit Industriegütern deteriorierte in den achtziger Jahren so weit, daß schließlich von 1.200 Bestandteilen eines angenommenen Basis-Warenkorbs 1.000 nicht mehr lieferbar waren.

In dem Maß, wie unter Gorbatschow erwogen wurde, Privateigentum, Markt und Konkurrenz wieder zuzulassen, trat die zugrundeliegende Absurdität des Systems klarer zutage: Es „avancierte, ob ausgesprochen oder nicht, ebenjener Mechanismus zum Heilmittel, in dem Marx und die Gründerväter der Sowjetunion die Krankheit geortet hatten“. Die Sowjetunion glich der feudalen Gesellschaftsordnung. Sie war nie über eine Subsistenzwirtschaft hinausgekommen, die zur Effizienzsteigerung nicht fähig war und Vermehrung der Produktion nur durch Vermehrung der Arbeitskräfte oder der Produktionsmittel erreichen konnte. Eine solche Steigerung war absehbar immer nur kurzfristig. Die immer wieder erneuerten Versuche, die Menschen durch Parolen und Kampagnen aufzumuntern oder mit Gewaltandrohung zur Arbeit zu zwingen, änderten daran nichts. Daß das Eigentum die Basis allen Wirtschaftens ist, war zwar bereits die oft geäußerte Lebenserfahrung unserer antikommunistischen Eltern und Großeltern, und in der eigentumstheoretischen Arbeit von Gunnar Heinsohn und Otto Steiger kann man es inzwischen auch wissenschaftlich begründet nachlesen. Doch die Unnachgiebigkeit, mit der dieser gesellschaftliche Grundmechanismus am Werke ist, egal wo man ihn betrachtet, überrascht doch immer wieder.

Gleichermaßen überraschend und auf längere Sicht deprimierend ist der Elan, mit dem auf dem Gebiet des alten Zarenreiches eine Utopie ins Werk gesetzt und jahrzehntelang verteidigt wurde, die sich theoretisch weiter wähnte als der kapitalistische Westen, dessen Untergang nur eine Frage der Zeit wäre. Die Richtigkeit der Marxschen Erkenntnis von der krisenhaften Entwicklung des Kapitalismus war ja besonders in der Zwischenkriegszeit weltweit unmittelbar zu beobachten. Daß der Versuch, dies Krisenhafte durch die Ausschaltung aller Differenzen in der Gesellschaft und durch die Eliminierung des Eigentums zu umgehen, letztlich in eine gigantische und unlösbare Existenzkrise münden würde, war theoretisch im 19. Jahrhundert nicht festzustellen. Es mußte erst in diesem Jahrhundert in der Praxis erfahren und erlitten werden, im wesentlichen von jenen, die gar nichts davon wissen wollten. Auch Manfred Hildermeier sinniert über lange Strecken seines Buches über diese Problematik, die die Geschichte des ersten Arbeiter-und-Bauern-Staates vom ersten bis zum letzten Moment begleitete.

Der Autor pflegt eine durchweg vorsichtig abwägende und vor extremen Urteilen und Standpunkten zurückschreckende Schreibweise. Das ist sehr angenehm, wenn auch die schieren Schrecknisse des Bürgerkriegs oder der Stalinschen Herrschaft zu verblassen drohen, während man den Verästelungen des Gelehrtenstreites um die „Totalitarismustheorie“ zu folgen versucht. Manchmal wünscht man sich etwas mehr Erzählung, auch biographische Nachrichten über die Protagonisten der Geschichte. Mit dieser Sorte Lesefutter wird sehr sparsam umgegangen, wobei dann die kurze Schilderung des Todes des Vaters aller Werktätigen um so stärker wirkt. Nach einem der üblichen Zechgelage und anschließender Film-Session mit den neuesten aus dem Westen eingeflogenen Wildwestfilmen, in der Gesellschaft von Lawrentij Berija, dem Geheimdienstchef, G.M. Malenkow, dem Sekretär des ZK, und Nikita Sergejewitsch Chruschtschow, dem späteren Staats- und Parteichef, erlitt Stalin einen Hirnschlag mit anschließender Lähmung. Der im Sterben liegende Diktator wurde einen ganzen Tag und eine ganze Nacht lang nicht entdeckt, weil niemand seine Privaträume zu betreten wagte.

Man muß Hildermeiers Buch großes Lob zollen. Die Sorgfalt in der Auswahl und Bewertung der Quellen und die Ausführlichkeit der Darstellung machen es zu einem absoluten Standardwerk, das jede Beschäftigung mit einzelnen Aspekten des Themas auf eine solide Basis stellt.

Die „slawistische“ Schreibung der Eigennamen, die dafür sorgt, daß man die Personen der Handlung nicht nur kaum wiedererkennt, sondern auch nicht mehr aussprechen und mit einer westlichen Tastatur nicht abschreiben kann, hätte man sich in einem für breitere Leserschichten gedachten Werk allerdings sparen können. Ebenso die „wissenschaftliche“ Unsitte, Vornamen nicht auszuschreiben oder überhaupt wegzulassen. Walter Klier

Manfred Hildermeier: „Geschichte der Sowjetunion 1917 bis 1991. Entstehung und Niedergang des ersten sozialistischen Staates“. Verlag C.H. Beck, München 1998, 1.206 Seiten, 98 DM