: Ein Präsident wird ausgezogen – vor der gesamten Weltöffentlichkeit. Die Geschichte geht um Moral. Aber welche Moral hat die Story selbst? Selbsternannte Saubermänner jagen Bill Clinton. Aber ist der mächtigste Mann der Welt nicht auch einer von ihnen? Von Georg Seeßlen
Die Puritaner und ihr Präsident
Mit einer Mischung aus Amüsement und Entsetzen, Ratlosigkeit und Schadenfreude sieht die Welt auf das, was einerseits dort drüben in Amerika und andererseits, in „Echtzeit“, über Internet und Fernsehkanäle in aller Welt abläuft. Es ist alles drin, was das große Melodrama braucht: das Komische, das Tragische, das Groteske, die Sünde und der Terror der Tugend, das Peinliche und das Lüsterne und vor allem: das Private in aller Öffentlichkeit. Nur ganz aufgehen tut das alles nicht. Es ist eine Geschichte, die vor allem von Moral handelt, aber welche Moral hat sie selber? Es ist eine große Metapher, die da medialisiert wird. Bloß: Auf was denn soll der Fall Clinton bitte schön eine Metapher sein?
Darauf, daß wieder einmal die Maus den Elefanten zu Tode stürzen läßt? Auf den Sieg der moralischen Repräsentationspflichten über die machtpolitischen Funktionen in der Postmoderne? Auf eine Neuauflage des McCarthyismus im Zeichen der neuen Medien? Darauf, daß im Medienzeitalter selbst der mächtigste Mann der Welt nicht verhindern kann, daß das Urteil über ihn schneller in den internationalen Datenkanälen verhandelt wird, als er es selbst annehmen oder ablehnen kann? All das und noch vieles mehr.
Etwas freilich raunt durch alle unsere Interpretationsversuche der Farce als Super-Metapher. Das alles muß einerseits mit dem amerikanischen Puritanismus zu tun haben, andererseits mit den Medien. Dieser amerikanische Puritanismus freilich erreicht uns in der Regel nur über seine Karikatur: moralische Bigotterie, Kleinstadtmuff, die Herrschaft dräuender Prediger und von Saubermännern, die eher ein Dutzend Menschen totschießen, als sich beim Masturbieren erwischen zu lassen. Vom Puritanismus als Religion haben wir vermutlich weniger Ahnung als vom tibetanischen Buddhismus.
Im Kern aber ist der Fall Clinton ein religiöses Problem. Und dieser Präsident ist nicht so sehr Opfer einer puritanischen „Hexenjagd“, sondern er ist in erster Linie Opfer seines eigenen Puritanismus. Er konnte nie anders als seinen Anklägern recht geben, denn er denkt wie sie, er spricht in ihrer Sprache, er lebt in ihren Obsessionen.
Im Zentrum des Puritanismus steht weder die Gnade noch das Sakrament. Fundament dieser Religion ist ein Pakt, und zwar einerseits der Pakt der Gemeindemitglieder untereinander, der auf der vollkommenen Offenlegung des einzelnen beruht. Das größte Vergehen ist das Hintergehen der Gemeinde. Denn diese Gemeinde ist Gegenstand des zweiten, ebenso bedeutenden Pakts, nämlich des Paktes zwischen ihr und Gott. Das heißt einerseits: es gibt keinen Weg zu Gott und damit auch keinen Weg zur Vergebung oder zur Erlösung als durch die Gemeinde.
So erübrigt sich die simpelste aller Fragen gegenüber der Super- Metapher: Warum zum Teufel hat Clinton nicht in einem entscheidenden Augenblick der ganze Affäre gesagt: „Dies ist meine Sache, und wenn ich in meinem Privatleben Mist gebaut habe, so ist das mein Problem, das meiner Familie und das der sonstigen Betroffenen“? Er konnte es nicht, denn damit hätte er sich automatisch aus der Gemeinde augeschlossen.
Clinton mußte mehr als lügen. Er hatte zweimal den Pakt gebrochen, den Pakt der Gemeinde und den Pakt mit Gott. Anders gesagt: die private Sünde der sexuellen Verfehlung wird im puritanischen Kontext automatisch eine öffentliche Angelegenheit. So konnte also nur die Überantwortung der Schuld an die Gemeinde die Möglichkeit der Vergebung eröffnen, und diese war ganz im Sinne des Puritanismus als öffentliche Selbstdemütigung inszeniert. Aber sie konnte nicht mehr ausreichen.
Denn der Präsident hatte nicht nur gleichsam das Fundamentale seiner Religion verletzt, er hatte auch einen puritanischen Mechanismus in Gang gesetzt, der paradoxerweise das Öffentliche dieser Verhandlung ins Absurde übersteigert. Denn so, wie nur die Gemeinde mit dem Sünder leben kann, indem sie ihm zugleich vergibt und ihn bestraft, so muß sie als Ganzes darum bitten, daß der zweite Pakt, der mit Gott, nicht verlorengeht. Eine Beichte reicht daher so wenig wie eine moralische Umkehr. Die ganze Gemeinde ist von der Sünde ergriffen, und es bleibt ihr gar keine andere Wahl, als sie so vollständig als möglich öffentlich zu machen.
Der zweite Sündenfall des Präsidenten ist der Umstand, die Gemeinde belogen zu haben. Wenn der Präsident über den Golfkrieg lügt, über Wirtschaftsdaten oder Geheimdienstaktivitäten, dann tut er es nicht gegenüber der Gemeinde, sondern gegenüber der Welt. Das ist weder besonders sündhaft noch gar gefährlich für das Seelenheil der Gemeinde. Deshalb ist es nicht erstaunlich, daß es keine moralische Mehrheit für die Verurteilung der US-Soldaten gibt, die in Europa den Tod unschuldiger Touristen in einer Seilbahn provozierten, wohl aber eine Mehrheit, die das politische Attentat gegen Staatsoberhäupter feindlicher Länder gutheißt. Und schließlich ist auch die sexuelle Verfehlung des Präsidenten vor allem so schrecklich, weil sie innerhalb der Gemeinde stattfand.
Natürlich ist diese puritanische Gemeinde, die ja gleichsam Öffentlichkeit als religiöses Heilmittel benötigt, in den von ihr gelenkten Medien in ein Stadium der Virtualität eingetreten. Einerseits also mag sich ein nicht unerheblicher Teil der amerikanischen Öffentlichkeit nichts sehnlicher wünschen als ein rasches Ende dieser Farce als Super-Metapher – und man darf wohl ziemlich sicher sein, daß es sich dabei vor allem um den nichtpuritanischen Teil der amerikanischen Gesellschaft handelt. Andererseits aber wurde der puritanische Aufruhr auch ins Universale und Allgegenwärtige ausgedehnt. Man könnte wohl sagen, daß durch den Fall Clinton nicht nur der Puritanismus einen weiteren Schub seiner Medialisierung erlebt, sondern umgekehrt, daß auch die internationalen Medien einen Schub der Puritanisierung erleben. Denn dieser Puritanismus ist nicht nur eine exotische Abbildung einer Art von Prüderie, die wir uns Gott sei Dank in die gesellschaftlichen Nischen abgeschoben haben, er hat andererseits auch eine enorme Verführungskraft.
Durch ihn bekommt die Durchdringung des Öffentlichen und des Privaten, die Vermengung von großer Politik und kleiner Moral Sinn und Ordnung. Mehr noch: Er verspricht ein Modell von Teilhabe, von Dialog zwischen oben und unten, von der Kontrolle der Macht durch die Gemeinde, die sich nach dem Ende der Hoffnungen auf die Rationalität der Massendemokratie und des Parlamentarismus als Repräsentanz als ungemein verlockend erweisen kann.
Der Fall Clinton: Das ist einerseits die Verhandlung über einen Menschen, der aus der Falle seiner eigenen Religion nicht herauskommt und sich mit jeder seiner Bewegungen tiefer hineinmanövriert. Das ist andererseits aber auch die Verhandlung über die Puritanisierung der Medien, der Politik, der Wahrnehmung.
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