Mit Plakaten Wählerstimmen gewinnen zu wollen ist etwa so erfolgversprechend wie der Versuch, Wetter durch Regentänze zu verändern. Wahlwerbung bringt nichts, sagen Wissenschaftler. Dennoch werden Millionen verpulvert – in einem Reigen aus Ritualen. Von Patrik Schwarz

Der rituelle Geistertanz von Bonn

Es gibt Dinge im Leben, die will man lieber nicht zu genau wissen. Die Regel gilt auch für Politiker, Journalisten und Demoskopen. Eine dieser verdrängten Wahrheiten lautet: Wahlwerbung nützt nix – nur will es sich kaum einer der Beteiligten eingestehen.

Dabei hatten im wohl größten Forschungsprojekt zur Bundestagswahl 1994 Wissenschaftler der FU Berlin eine Gruppe von 500 Bürgern jeden Tag aufs neue befragt. Die Fachzeitschrift Bild der Wissenschaft bilanziert, das Ergebnis „ist für Wissenschaftler so banal wie für Politiker zwanghaft: Das Plakatieren und die sogenannte heiße Phase des Wahlkampfs sind für die Katz.“

Der Leiter der Studie, der Kommunikationswissenschaftler Lutz Erbring, ist überzeugt: „Da geht es allenfalls noch um zwei Prozent. Die Fixierung der Groblandschaft findet viel früher statt.“ Erbring widerspricht ausdrücklich der angeblich zunehmenden Abnabelung des Wählers von „seiner“ Partei. Quantitativ lasse sich das nicht belegen. Andere Studien, etwa aus England, kommen zum gleichen Ergebnis. „Im Laufe der Jahre bildete sich ein Konsens unter Politikwissenschaftlern heraus, wonach der Wahlkampf praktisch völlig irrelevant für das Ergebnis ist“, schreibt die britische Sozialwissenschaftlerin Gillian Bennett.

Damit ist nun keineswegs gemeint, daß Wahlergebnisse von vornherein feststünden. Aber wenn Bürger sich von einer Partei abwenden, dann, weil junge Ministerinnen öffentlich über Mehrwertsteuererhöhungen nachdenken oder die Opposition einen Wirtschaftsstar als Kandidaten präsentiert, der sich in Interviews eher als Polit-Joke denn als Polit- Joker entpuppt.

Doch die Wirkung von Wahlkampf als Inszenierung wird von den bilder- wie eventverliebten Berichterstattern bei Fernsehen, Funk und Zeitungen maßlos überschätzt: Auch wenn Helmut Kohl ungleich gewinnender von Postern und Podien herablächelt als Gerhard Schröder, wird ihm das nicht eine Stimme zusätzlich bescheren.

Bonner Rituale ähneln Regentänzen

Nimmt man diese Erkenntnis ernst, wirft sie eine Frage auf, die am Verstand aller Beteiligten, Politiker, Journalisten, Demoskopen, zweifeln läßt: Warum Wahlwerbung? Warum opfern Parteien allein für die Bundestagswahl 150 Millionen Mark, wenn die Polit-PR auf Plakatwänden und Marktplätzen folgenlos bleibt?

Auf der Suche nach einer Antwort empfiehlt es sich, statt nach Bonn oder Berlin zu blicken, zum Beispiel nach Madagaskar, Melanesien oder Sri Lanka zu reisen. Denn Ethnologen beschäftigen sich seit langem mit einem ähnlichen Phänomen. Wie die Wahlkampfrituale in der Bundesrepublik sind auch Rituale in traditionellen Gesellschaften gekennzeichnet durch ein krasses Mißverhältnis von Aufwand und Ertrag: Regentänze bringen keinen Regen, Erweckungsriten machen Tote nicht wieder lebendig – und Wahlkampfrituale gewinnen keine Wahlen. Warum erfreuen sich die genannten Bräuche in ihrem jeweiligen Kulturkreis trotzdem so großer Beliebtheit?

Wer in der Fußgängerzone von Wanne-Eickel am SPD-Infostand innehält oder in der Dortmunder Westfalenhalle mit ein paar tausend Menschen dem Kanzler lauscht, würde auf den ersten Blick vermutlich wenig Ähnlichkeiten zu Ritualen erkennen wie der Geisteraustreibung auf Sri Lanka, den Beschneidungs- und Bestattungsritualen der Merina auf Madagaskar oder den Cargo-Kulten, die sich in Melanesien für einen bevorstehenden Weltuntergang wappnen. Doch die Exotik täuscht.

Rituale seien weltweit durch dasselbe Paradox gekennzeichnet, sagt der Ethnologe Stanley J. Tambiah. Zwar stützten sich Rituale auf ein eng umrissenes Repertoire an stilistischen Grundformen, dafür würden diese bis zum Überdruß benutzt, allenfalls leicht variiert und in immer neuen Wiederholungen aneinandergereiht. Was für den Geistertanz etwa der Paiute-Indianer unter ihrem großen Führer Wodziwob in den 70er Jahren des vorigen Jahrhunderts gilt, läßt sich auch bei der CDU unter ihrem großen Vorsitzenden Helmut Kohl beobachten: Wo die Indianer im Laufe der Geisterbeschwörung die immer gleichen Gesänge anstimmen, lauten die Versatzstücke bei den Unionschristen „Weltklasse für Deutschland“, „Sicherheit statt Risiko“ oder „blühende Landschaften“.

Geisterbeschwörungen bleiben inhaltsleer

In diesem Zusammenhang darf man sich exotische Rituale nicht isoliert vorstellen wie etwa eine katholische Morgenmesse in Oberbayern, bei der man nach spätestens anderthalb Stunden entlassen ist und sich an sein Weißwurstfrühstück machen kann. Vielmehr ähneln die Merina-Beerdigungsrituale auf Madagaskar der heißen Wahlkampfphase zum Beispiel der SPD insofern, als sie sich über Wochen und Monate hinziehen können – in den immer gleichen Variationen. Treffen sich Ethnologen in Madagaskar abends am Lagerfeuer, um nach Wochen der teilnehmenden Beobachtung ihre Eindrücke auszutauschen, ähneln ihre Klagen oftmals denen, die bei einem Pils im Bonner Presseclub zu hören sind: Keine Höhepunkte! Jeden Tag derselbe Kram! Wann wird es endlich spannend? Conclusio: Geisterbeschwörung ist oft nicht weniger ermüdend als ein Bundestagswahlkampf.

Auch im Aufwand stehen etwa die Maya vom Stamm der Zinacantan dem Konrad-Adenauer- oder Willy-Brandt-Haus nur wenig nach. Traditionelle Gesellschaften riskieren für die Ausgestaltung ihrer Rituale „kreative Verausgabung, ästhetische Überfrachtung und den finanziellen Bankrott“, hat der Ethnologe Tambiah beobachtet. CDU oder SPD greifen dazu zwar nicht auf Federn, Perlen, Holzmasken und Muscheln zurück, doch auch deutsche Parteizentralen verausgaben sich regelmäßig für immer aufwendigere Inszenierungen, bis sie tiefrote Zahlen schreiben müssen.

Der alte afrikanische Jäger und Philosoph Ogotemmeli wurde weithin wegen seiner Weisheit geschätzt, und Gleiches gilt sicher auch für Peter Hintze. Warum also vertreten der Afrikaner vom Stamm der Dogon und der Generalsekretär der CDU Investitionen, die sich nicht rechnen? Der australische Ethnologe W.E.H. Stanner fand bei seinen Forschungen über Weltuntergangskulte in Neuguinea eine einfache Formel, die auch auf die Endzeitstimmung in der Union paßt: Je größer der Lohn, der lockt, desto größer die Bereitschaft zu opfern. Und in der Tat hegen Hintzes Mannen dieselbe Hoffnung wie die Kultanhänger in Neuguinea: den Tag X zu überleben.

Der Experte für Endzeit-Kulte nennt Rituale einen „einseitigen Dialog mit dem Überirdischen“. Wer sich heute mit Opfern an die Götter wendet, kann nur beten, morgen nicht enttäuscht zu werden. Von außen betrachtet sind Wähler zwar durchaus irdische Geschöpfe, doch aus der Sicht eines Generalsekretärs stellt sich das leicht anders dar: Für die Herren Westerwelle oder Müntefering dürften Götter wie Wähler gleichermaßen undurchschaubar sein. Und mit dem Leben nach der Wahl ist es wie mit der Himmelfahrt: Darüber wird erst am Tag X entschieden, wenn es zu spät ist, noch mal von vorne anzufangen. Entsprechend ist es durchaus weise, wenn Sünder wie Parteisekretäre lieber nicht ausprobieren, ob sie das Jüngste Gericht auch heil überstehen könnten, ohne vorher das letzte Hemd geopfert zu haben. Mit Göttern ist nicht gut Scherze treiben – und bis Sonntag abend gibt es im Bonner Kosmos keine mächtigeren Götter als die Wähler.

Doch Generalsekretäre wären keine Menschen, versuchten sie nicht trotzdem, das Unergründliche zu ergründen. Die Ureinwohner Südostasiens haben es vorgemacht, wie Stanley J. Tambiah beobachtete: „Die Götter schicken Gesandte in Form heiliger Männer und Frauen, die in Zungen reden und den göttlichen Willen kundtun.“ Die Parteien sind da pragmatischer. Statt auf himmlische Boten zu warten, schicken sie selbst Kundschafter los. Schaut man sich an, wie die Wahlforscher etwa bei der Wahl in Bayern danebenlagen, scheint es, als seien sie mit ihren Vorhersagen kaum akkurater als Menschen, die in Zungen reden.