Staunen ohne Stau

Erstes Fazit der Kampagne „100.000 Tage ohne Auto“: Autofrei leben ist gar nicht so umständlich und viel billiger  ■ Von Bernd Müllender

Aachen (taz) – Leere Linienbusse sind ein bekanntes Bild in deutschen Straßen. Das soll sich ändern, hat sich die Initiative „Verkehrswende in NRW“ vor ein paar Monaten vorgenommen. Mit Erfolg: Wenn dieser Tage trotzdem ein nur spärlich besetzter Bus an ihrer Aachener Außenstelle vorbeifährt, liegt das daran, daß die intensivsten und bewußtesten KundInnen gerade beim abschließenden Erfahrungsaustausch sitzen: Das Dutzend Leute steht stellvertretend für mehr als 1.500 Menschen aus ganz Nordrhein-Westfalen, die ihr Auto von Anfang Juni bis Ende September für die Kampagne „100.000 Tage ohne Auto“ in der Garage lassen wollten.

Wie war die Zeit ohne das jahrelang gewohnte Stück rollender Selbstverständlichkeit? Gerd Beißel, Maschinenbautechniker (54): „Ich war wirklich überrascht: Es geht sehr gut mit der Bahn, obwohl ich 40 Kilometer zu meiner Arbeitsstelle muß.“ 25.000 Kilometer pro Jahr fuhr er. „Allein in den drei Monaten hab ich 900 Mark gespart, nur für Sprit.“ Krankenschwester Brigitte Simon (56) hatte es innerstädtisch schwerer und berichtet, daß sie tapfer Tag für Tag zur Arbeit den langsameren Bus genommen habe, quer durch die Stadt, mit Umsteigen. „Aber das hat auch was, dieses Gefahrenwerden.“ Beißel: „Deswegen bleib' ich beim Zugfahren. Meine Frau sagt, ich sei noch nie so entspannt von der Arbeit zu Hause angekommen.“ Simon: „Nur Kollegen sagen, du hast 'ne Meise! Willste deine Freiheit aufgeben?“

Ja, die Mutneider! Gerade jüngere Leute, oft die eigenen Kinder, seien verständnislos, erzählen alle. Eine Generationenfrage? Michaela König, Referentin bei Misereor (35), hat ebenfalls von ihren Eltern zu hören bekommen: „Ohne Auto? Geht es dir so schlecht, Kind?“ Dabei sei das toll, sagt sie: „Keine Parkplatzsuche, kein Streß, so viel Geld gespart. Richtig befreiend!“ Und mit den eigenen Kindern ohne Auto?! „Mein Sohn ist ganz begeistert vom Bahnfahren“, sagt König, „da kann er sich prima selbst beschäftigen und hat viel mehr Platz.“

Auch vom ultimativen Argument Dritter können alle berichten: „Wie denn jetzt einkaufen? Die Bier- und Sprudelkästen!“ Darüber entzündet sich eine Debatte um Bequemlichkeit, Selberschleppen, Service. Adressen von Lieferfirmen („ach, das gibt's?“) werden ausgetauscht. „Wir machen halt einmal im Monat den Großeinkauf.“ – „Aber warum?“ – „Ja, eigentlich ist es Quatsch.“

Alle TeilnehmerInnen haben ihre Erfahrungen in Fragebögen und „Mobilitätstagebüchern“ verschriftet, die das Wuppertal-Institut für Klima und Umwelt jetzt auswertet. Für jeden autolosen Tag haben alle eine Glasmurmel gesammelt. Über 90 haben fast alle geschafft, bis auf einen, den Lehrer Adi Klaming (46): „Ein paarmal war ich rückfällig. Aber manchmal geht ohne Wagen die Spontaneität flöten, wenn du mal eben außerhalb jemanden besuchen willst. Und ich bin Hobbyzauberer. Da kann ich zu Auftritten nicht die ganzen Requisiten im Bus mitschleppen.“ Immerhin 80 Murmeln hat aber auch er abgeliefert. Die bunten Symbole werden am Mittwoch in Düsseldorf bei der landesweiten Abschlußveranstaltung von einem Aktionskünstler in einer riesigen Mobilitätsmurmelmaschine sinnbildlich in Bewegung gebracht.

Und die persönliche Zukunft? Über den Nahverkehr schimpfen alle: Verspätungen, Unsauberkeit, Unzuverlässigkeit, grauenvolle Verbindungen aufs Land und am Wochenende. Einige wollen sich dennoch ein Monatsticket kaufen. Die Bahn AG kommt erstaunlich gut weg: „Ich hatte mich ja nie damit beschäftigt“, sagt Brigitte Simon, „aber zwei, manchmal drei Züge pro Stunde nach Köln, auch abends, das ist schon toll. Ich stand früher immer genervt im Stau. Damit ist jetzt Schluß.“ Und sie staunt über sich selbst: „In Leipzig, damals, haben wir zwölf Jahre auf unseren Trabi gewartet. Das war dann das Ding überhaupt! Und jetzt will ich mein Auto vielleicht abschaffen. Schon verrückt!“

Michaela König ergänzt: „Man macht so viel Sinnloses, nur weil der Wagen da steht. Ich habe gelernt, mir Zeit zu nehmen.“ Und: „Das Auto kommt auf jeden Fall weg. Will es jemand haben?“ Statt eines Kaufangebots erntet sie nur ein paar Lacher.