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Tot und kleiner als die Wirklichkeit

Gegen die Konkurrenz zahlreicher Mitbewerber und zeitgleich mit der berlin biennale sowie dem dritten Art Forum Berlin zeigt die Nationalgalerie die Skandalausstellung des Londoner Sommers 1997: „Sensation: Junge britische Künstler aus der Sammlung Saatchi“  ■ Von Harald Fricke

Auf einem flachen Sockel liegt ein nackter Mann. Die Figur ist aus Silikon bis ins Detail exakt nachgebildet. Größer als eine Puppe zwar, aber kleiner als die Wirklichkeit. Die Zehen sind etwas krumm, an der Hüfte setzt Speck an, als Folge von Haltungsschäden hängt der Brustkorb ein wenig durch. Nur die Haut wirkt übermäßig bleich, und die Augen sind allzu fest geschlossen. Ron Mueck hat einen Toten porträtiert, der Mann war sein Vater.

Schockierend ist diese Skulptur als „Memento Mori“ nicht, eher bedrückend. Zumal Mueck die Arbeit nur angefertigt hat, um über den Verlust hinwegzukommen. Das hat er im Interview mit The Face gesagt, die dem Leichnam in Kindergröße eine Fotostrecke widmete. Nebenbei erfuhr man, daß Mueck in den achtziger Jahren Puppen für die Muppet Show gebaut hat und erst 1995 als immerhin schon 37jähriger zur Kunst gekommen ist. Der Wechsel dürfte sich gelohnt haben: Heute ist Mueck mit drei Arbeiten, die der Londoner Sammler-Multi und Werbefachmann Charles Saatchi gekauft hat, einer der 42 „young british artists“ in der „Sensation“-Ausstellung im Hamburger Bahnhof.

Als „Sensation“ letzten Herbst in Londons Royal Academy of Arts gezeigt wurde, gab es Besucherrekorde. Über 300.000 Menschen wollten sehen, wie Damien Hirst Kühe zerteilt; wollten sehen, wie Marc Quinn den Gipsabguß seines Kopfes mit eigenem Blut eingefärbt hat oder wie Rachel Whiteread ein komplettes Zimmer in Negativform nachgebildet hat. Es gab Ärger, weil die von Dino & Jake Chapman derangierten Kinderkörper unter das Pornographie-Gesetz fielen und für Jugendliche unzugänglich in einem Extraraum gezeigt werden mußten. Außerdem war die Boulevardpresse in Aufruhr, weil Marcus Harvey das Konterfei der Kindesmörderin Myra Hindley aus Abdrücken kleiner Kinderhände zusammengesetzt hatte. Angeblich soll der Royal-Academy-Kurator Norman Rosenthal selbst um die Provokation gebeten haben, damit die Show ein entsprechendes Feedback bekam. Tatsächlich sind Harveys andere Gemälde lediglich gestisch zerwühlte Bilder nach Vorlagen aus Sexheftchen.

Was den Werdegang von „Sensation“ betrifft, ist Rosenthal jedoch entwaffnend offenherzig. Nachdem letztes Jahr die von ihm und Christos Joachimides für Berlin geplante „Moderne“-Ausstellung aus „komplizierten Gründen“ nicht für London übernommen werden konnte, hatte das Programm der Royal Academy of Arts plötzlich ein Loch. Aus der Bedrängnis heraus fragte Rosenthal den Sammler Charles Saatchi, ob er nicht seinen Bestand an junger britischer Kunst zeigen möge. Saatchis spontane Zusage mag vor allem Prestigegründe haben: Da er über eine museumsgroße Galerie in Citynähe verfügt, war die Umsiedlung seiner Ankäufe der letzten sechs Jahre in die Akademie auch eine Aufwertung der schnell zusammengekauften Kunst.

Dabei geht Saatchi schon seit Mitte der siebziger Jahre extrem marktorientiert vor. Zunächst stieg er mit Kiefer und Baselitz in die wilde Malerei aus Deutschland ein; danach holte er mit Jeff Koons, Haim Steinbach oder Cindy Sherman „New York Art Now“ ins Haus; und jetzt gilt Saatchi eben als Mentor der „young british art“. Die Wendung paßt ins Bild von Cool Britannia, wo Kunst neben Popmusik, Mode oder Design einen erfolgreichen Markenartikel mehr darstellt. In Berlin ist die Lage sehr viel schwieriger: Bei einem Kostenaufwand von 1,8 Millionen Mark müssen sich an die 250.000 Fans für young britisch art finden. Das sind Zahlen, die sonst nur Picasso bringt – wenn Götz Adriani daraus ein Spektakel im ländlichen Tübingen macht. Warum aber sollte sich eine viertel Million Berlin-Touristen für abgetrennte Kuhschädel, Gummileichen oder anderweitigen Todeskitsch begeistern?

Schon deshalb klang das gebetsmühlenhafte Eröffnungsgerede Heiner Bastians, der „Sensation“ mitbetreut, ein bißchen nach Anflehung. Sollte die Übertragung des London-Hypes auf Berliner Verhältnisse floppen, wäre die von Bastian an den jungen Briten geschätzte „Brutalität des Faktischen“ nicht bloß eine romantisch dahergeschwärmte Metapher, sondern Zeugnis des eigenen Scheiterns. Überhaupt fallen im Zusammenhang mit „Sensation“ immer wieder Vergleiche: Stets wird behauptet, daß junge Kunst in England zwar die „Mythen im Alltag sucht“, aber ihre Inspiration gerne aus der Vergangenheit bezieht – was meist aufs Studium der Kunstgeschichte hinausläuft. Besonders der eigenen: Alle lieben Bacon, Blake und Gilbert & George. Rachel Whiteread bezieht sich zudem mit ihren abgegossenen Stuhlflächen direkt auf eine Arbeit von Bruce Nauman, die kastrierten Schaufensterpuppen in einer Installation der Chapman-Brüder gehen auf eine Zeichnung von Goya zurück, und Peter Davies schreibt in bunten Farben lieber gleich seine persönliche Hitliste der hundert besten Künstler auf die Leinwand. Mit 13 Nennungen sind sogar fünf Prozent mehr Frauen dabei als im letzten Jahrhundert.

Natürlich gibt es Gründe dafür, daß british art die Kunst der neunziger Jahre beherrscht. Sarah Lucas kann selbst Spiegeleier und Kebab-Brote mit einem simplen Handgriff zu brillianten Skulpturen verarbeiten, Mark Wallingers „Race Class Sex“ betitelte Pferdebilder transportieren echt britischen Humor, und Mat Collishaws auf Leuchtkästen hochkopierter „Kopfschuß“ springt einen mit genau der Aggressivität an, die den diversen Pathosformeln für Zukunftsangst, Verfall und Grausamkeit anderswo fehlt. Aber als Ausstellung, die etwas von der Haltung hinter den Bildern widerspiegelt, bleibt der Marsch durch Sex und Tod und letzte Dinge made in Britain ziemlich eintönig. Die Gründe dafür liegen in der besagten Sammelwut von Charles Saatchi: Er hat einfach eine Unmenge an Kunst gekauft, die von Leuten gleichen Alters aus gerade einmal drei verschiedenen Schulen produziert wurde. Jetzt setzt er damit ein Exempel, indem er das disparate und oftmals extrem private Material als gemeinsame Bewegung darlegt. Um diesen Eindruck der Kontinuität und Geschlossenheit der britischen Kunstszene zu verstärken, reiht Saatchi, wo ein einzelnes Exponat genügt hätte. Doch in der vierfachen Folge wirken selbst Lucas oder Hirst kaum mehr individuell, sondern nur noch als Beleg für die alte Werbermethode der Redundanz.

An der engen Welt der Kunstschulen hängt aber noch ein zweiter Konflikt. Bei allen Arbeiten scheint nicht nur ein ähnliches technisches Know-how durch, sondern auch der selbe Umgang mit den täglichen Erfahrungen. So stellt sich Damien Hirst bei seinen Tierkadavern Einsamkeit nicht viel anders vor als Tracey Enim, wenn sie auf Stoffreste die Namen all derer näht, mit denen sie geschlafen hat, „with myself always myself never forgetting“. Vielleicht ist dieser fehlende Abstand das Problem: „Sensation“ könnte auch „Wir Kinder vom Goldsmith College“ heißen.

Bis 17. Januar 1999, Hamburger Bahnhof, Berlin. Katalog 39 Mark.

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