piwik no script img

Die Kraft der zwei Herzen

Alter schützt vor Liebe nicht: Der 92jährige Kubaner Compay Segundo verführte in der Musikhalle  ■ Von Christoph Twickel

In der bestuhlten Gediegenheit der Großen Musikhalle eine urgroßväterliche Lektion in Sachen música tradicional cubana zu empfangen – dieser Abend versprach gemütlich zu werden. So hatten sich denn auch genug kubanisch beseelte Thirty- und Fortysomethings, etliche Latinos und Latinas sowie haufenweise Medienvolk angefunden, um den Saal bis auf den letzten Platz zu füllen.

Trotz warmer Begrüßung seitens einer eingeschworenen Fan-Gruppierung, die mit Wimpeln und Banderolen aufwartete, hauchte das Quartett um Compay Segundo die alten Weisen zunächst etwas schüchtern in den ehrfurchtgebietenden Klassik-Tempel. Gleich das zweite Stück ging an „meine erste Geliebte“, wie Compay ankündigte, und in der Epoche, in der dieses Techtelmechtel wohl stattgefunden hat, dürften die Großeltern der meisten im Publikum noch nicht das Licht der Welt erblickt haben. Denn Compay Segundo alias Francisco Repilado ist 92 Jahre alt, und im Gebälk seiner Armónica knarzt es schon mächtig.

Aber das war genau das, weshalb die Meute gekommen waren: Je mehr sich die Stimmung des compayschen Saiteninstruments verzog, desdo besser wurde die im Parkett. Paco de Lucia hätten wir das natürlich nicht durchgehen lassen, aber schließlich kauft sich ja auch keiner wegen der Feinmechanik einen antiken Bauernschrank. Und ganz gleich, ob die Töne in den Soli des greisen Genossen richtig saßen – Strohhut ab vor seinem Erfindungsgeist und seinem Groove. Im Duett mit der Sängerin Omara Protuondo – als Bolero-Interpretin, Schauspielerin und Tänzerin selbst eine kubanische Legende – lief der hüftwiegende Recke zu großer From auf.

Nach der Pause wurde er allerdings ein bißchen müde und vergaß glatt, daß er El Cumbanchero schon im ersten Teil des Abends gegeben hatte. Egal, mit Pausenpickolo schön in Stimmung gebracht, rutschte das Publikum immer beschwingter auf den Polstern hin und her, um schließlich mit dem Guantanamera-Showdown das unvermeidliche Ritual zu begehen: Aufstehen! Im Chor „Compay, Compay“ singen! Und vor allem: Mitklatschen! Warum eigentlich immer und immer wieder Guantanamera? Wegen Textzeilen wie „Mit den Armen der Erde möchte ich mein Schicksal teilen“? Das doch wohl nicht. „Ich komme wieder!“ rief Senor Repilado zum Abschied. Das wollten wir ihm wohl glauben. Aber erstmal hatte er sich seine Nachtruhe wohlverdient.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen