taz zwischen Orgel und Altar

Genossinnen und Genossen der tageszeitung kamen zur Generalversammlung in die Kreuzberger Heilig-Kreuz-Kirche. Berlin-Erweiterung vorgestellt  ■ Aus Berlin Kerstin Willers

Eigentlich wollte Pfarrer Ritzkowsky nur schnell etwas Goldfarbe holen, zum Anmalen der Nüsse. Am Sonntag feierte die Gemeinde Erntedank, da sollte die Kirche schön geschmückt sein. „Aber das muß ich mir genauer ansehen: so viele Leute in der Kirche“, sagt er fast ungläubig. „So ist es sonst nur zu Weihnachten.“

217 der insgesamt 3.963 GenossInnen sind an diesem Samstag aus ganz Deutschland zur 6. taz-Generalversammlung angereist. Wichtige Projekte stehen auf der Tagesordnung: die Erweiterung des Berlin-Teils und die Regionalisierung der taz, die in Münster und an der Ruhr nicht recht zünden mag.

Als Katharina Ahrendts durchgeregnet ihr Fahrrad vor der neugotischen Kuppelkirche abschließt, hat sie schon viel Arbeit hinter sich. „Bis kurz vor Toresschluß“ hat die 27jährige Juristin an ihrem Manuskript gefeilt. Die Junggenossin soll eine Rede halten, wie auch der 85jährige Verleger Helmut Kindler, Genosse seit einem Jahr. Ein bißchen nervös sei sie schon, sagt sie.

In der Cafeteria unter den Spitzbögen findet Katharina kaum die nötige Ruhe, denn dort drängen sich Dutzende. Die Käsebrötchen und Leberwurststullen gehen weg wie warme Semmeln. Als Aufsichtsrat Christian Ströbele die Genossen um kurz nach zwei mit einem Messingglöckchen zur Ruhe bimmelt, sind nur noch ein paar Brezeln übrig. „Gefressen wird immer“, weiß Günter Kaplan, der seit einem Jahr Genosse ist und seit 41 Jahren in der CDU. „Nackter Egoismus“ habe ihn zum Genossen gemacht, erklärt Kaplan. Der 62jährige ist Wirtschaftlichkeitsgutachter für Unternehmen in Schwarzafrika und Südostasien. Von den fünf Zeitungen, die er liest, sei die taz in diesem Bereich am besten informiert: „Wär‘ blöde, wenn's die nicht mehr gäbe“, sagt Kaplan und greift zum Bienenstich.

Auf dem Podium hat sich Katharina warm geredet – über ihre zwiespältige Liebe zur taz. Die Zeitung sei für ihre Generation quasi die „Mutter aller linken Medien-Projekte“. Und wie man das mit Müttern eben zu tun pflegt, geht sie mit der taz kritisch ins Gericht: zuviel Clinton, zuwenig Feminismus in letzter Zeit. Die taz soll tazziger bleiben, fordert sie. Und die Republik linker werden, hofft Helmut Kindler. Er freut sich über den Fraktionsstatus der PDS und ärgert sich über die allgemeine Wehrpflicht in Deutschland. Viel Applaus für beide, und in der zweiten Reihe lacht Helge Löw. Das „Bild der Mutter“ habe ihr gefallen. Die 70jährige ist taz-Leserin seit der Nullnummer und Genossin der ersten Stunde. Sie betrachtet die taz eher als ein Kind. „Ich habe die taz aufwachsen sehen, mit allen Stolpersteinen“, sagt Helge Löw. Die Stolpersteine, das sind – wie so oft – die Finanznot und der Streit darüber, welche Anzeigen in die taz kommen und welche nicht. Um zu erfahren, wie es nun weitergehe, deshalb sei sie hergekommen. „Und natürlich wegen der Leute.“

Die Leute hören den Diskussionen über fünf Stunden lang aufmerksam zu. Hilde Seelbach, zum ersten Mal als Genossin dabei, gibt sich überwältigt: „Die Atmosphäre ist so menschlich!“ freut sie sich ins Mikrofon; „ich glaube, ich habe 'ne neue Familie gewonnen.“ Einige Teilnehmer fanden die Stimmung allerdings zu nett. In den letzten Jahren sei leidenschaftlicher diskutiert worden. Einigkeit auch am Ende der Versammlung. Rund 170 Genossen nehmen den Jahresabschluß an. Dann werden zwei neue Aufsichtsratmitglieder gewählt – fast einstimmig. Johannes Rauschenberger, Steuerberater und Wirtschaftsprüfer wird wiedergewählt; Urs Müller-Plantenberg, Dozent am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin, ist neues Mitglied in dem Gremium. „Alles DDR-Ergebnisse“, kommentiert taz-Dokumentar Mario Hentschel. Gelächter auf den hinteren Rängen. Dann wird es noch einmal ruhig in der Kirche. Chefredakteurin Bascha Mika verabschiedet „taz-Urvater“ Christian Ströbele, der als grüner Bundestagsabgeordneter nach Bonn geht. Sie zitiert den Irland- Korrespondenten Ralf Sotscheck, für den Ströbele „der einzige“ ist, der ihn „in eine Kirche locken kann“. Beim Gang durchs Portal ging der Blick der Genossen bereits ins nächste Jahr. Katharina Ahrendts und Helge Löw wollen wieder dabeisein, denn, so meinen sie: „Die taz ist mehr als eine Zeitung.“