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Herr Müller träumt von der NFL

Beim Probetraining sucht das Berliner NFL-Europe-Team nach potentiellen Identifikationsfiguren für das auf dem Hauptstadtmarkt neue Produkt American Football  ■ Aus Berlin Martin Sonnleitner

Unvorstellbar, daß hier, in der Eberswalder Straße in Prenzlauer Berg, wo die PDS eines ihrer Direktmandate gewonnen hat, einmal der kapitalistische Vorzeigesport American Football heimisch sein wird. Wo einst ein Exzerzierplatz lag und Erich Mielkes Stasi- Vorzeigeclub BFC Dynamo Berlin DDR-Serienmeister wurde, hier riecht es auch heute nach Männerschweiß. Am Sonntag wurden sie gesichtet, die Besten Deutschlands, die zusammen mit importierten Amerikanern in der NFL Europe das Spiel um das rostbraune Ei in Berlin populär machen sollen. Beim sogenannten Try Out testete der Trainer des künftigen Berliner NFL-Europe-Teams, Wes Chandler, die Bewerber für einen der begehrten Posten im Hauptstadtteam. Sieben, vielleicht auch acht Plätze sind für deutsche Spieler im Kader vorgesehen. Im Schnitt muß bei jedem zweiten Spielzug einer der sogenannten „Nationals“ auf dem Feld sein, so will es die Satzung der Liga. „Die Nationals sind dafür da, daß sich die Zuschauer und die Stadt mit dem Team identifizieren“, sagt Pressesprecher Roman Motzkus.

1 Meter 85, 102 Kilo, Vertical jump: 9 feet, 11,5 inches. Gestatten, Wanja Müller (21), Quarterback bei den Kiel NewYorker Hurricanes. Er gilt als eines der größten Talente in Deutschland, schon mit 20 Jahren wurde er Starting Quarterback in der Bundesliga bei den Berlin Adler und Nationalspieler. Trotzdem muß sich Müller anstrengen, um als dritter Quarterback hinter zwei Amerikanern bei den Drafts im November von Wes Chandler ausgewählt zu werden.

„Ich will nicht zu hoch greifen“, betont der gebürtige Berliner dann auch vor dem Probetraining, auch wenn er weiß, daß er gute Chancen hat, wenn es in Berlin nicht klappt, von einem der beiden anderen deutschen NFL-Europe-Teams, Frankfurt Galaxy oder Düsseldorf Rhein Fire, genommen zu werden.

Vier Stationen müssen die Kandidaten bei diesem Try Out durchlaufen. Sprints, Bankdrücken, im Vertical Jump wird die Sprungkraft getestet, beim Shuffel Run die Wendigkeit. „Ich bin leicht schneller als in meiner letzten Adler-Saison“, flüstert er im Kraftraum einen Kollegen ins Ohr, zehn Pfund habe er abgenommen. Beim Bankdrücken stemmt Müller trotzdem 14 Mal 100 Kilo.

Konkurrenz scheint es hier nur faire zu geben. Trotzdem wirken einige der Kandidaten ein wenig verbissen. Müller dagegen ist ausgeglichen, vielleicht weil er weiß, daß er besser ist als andere. „Das Wichtigste ist die Übersicht“, sagt er, „und Fehler zu vermeiden.“ Die innere Ausgeglichenheit kann aber auch ein Grund für die Erfolge des Ex-Judokas sein.

Die Teilnehmer sind in Gruppen aufgeteilt, fünf bis sechs Männer bilden eine Einheit, positionsbezogen. Die 40 yards, ungefähr 38 Meter sprintet Wanja Müller in fünf Sekunden. Vorurteile gegen Kraftpackete, sie seien lahm und unbeweglich, werden von ihm revidiert.

Nach dem Durchlaufen der vier Stationen sichtet Wes Chandler die technischen Fertigkeiten der Spieler auf dem Feld. Die Quarterbacks müssen Pässe werfen, die Wide Receivers und Running Backs dann fangen. Hier wird Wanja Müllers Stärke deutlich: Das Auge, die Ruhe und die Physis, den genauen Paß zu spielen.

Ein Feld weiter werden die Defensivspieler getestet, die Müller und Konsorten am Raumgewinn hindern sollen. Einer von ihnen ist Martin Grziska, genannt „Private“, nach Private Paula aus dem Film „Full Metal Jacket“. Man kann ein wenig Angst kriegen, wenn man vor dem zweimetergroßen 123-Kilo-Mann steht, doch der Film ist ein Antikriegsfilm und Martin Grziska friedlich wie ein Lamm, weshalb ihm sein erster Coach diesen Namen verpaßte.

Während Left Offensive Tackle Grziska vordergründig Kraft und Stehvermögen braucht, ist der Quarterback der Mann, von dem multifunktionales Können erwartet wird. Dementsprechend trainiert Wanja Müller. Täglich Kraftraum, jeden zweiten Tag Joggen und Sprinten, dazu bewußte Ernährung und Taktikstudium erfordern viel Zeit. Belohnt werden soll diese im Team der Berliner, dessen Name, Logo und Farbe demnächst bekanntgegeben wird, mit 20.000 Mark für die vier Monate dauernde Saison. Ein schönes Taschengeld, mehr nicht, denn die Karriere kann kurz sein. Kein Vergleich zumindest zu den großen Brüdern in Amerika, die nicht selten einige Millionen verdienen. Auch Müller träumt natürlich insgeheim von einer Profikarriere in den USA, aber ist realistisch genug, sich ein zweites Standbein zu schaffen. Bald will er mit einem Studium beginnen.

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