Leben als Gesamtkunstwerk

Der Mythos von der Unersetzlichkeit: Patrick Bahners untersucht Helmut Kohl im „Mantel der Geschichte“ und findet, wo Politik sein sollte, vor allem Privates  ■ Von Christian Semler

Kohl am Abend der Wahl – wirklich ein starker Abgang. Kein Wehklagen, nur eine schlichte Verbeugung vor dem Entscheid des Volkssouveräns. Und tschüs. Schade, daß Patrick Bahners in seinem Essay „Im Mantel der Geschichte“, erschienen wenige Wochen vor dem Wahltag, diese Szene nicht vorweggenommen hat. Hätte er das Doppeldeutige der Situation begriffen? Auf der einen Seite der egomane Machtmensch Kohl, für den jenseits seiner Führung nichts Interessantes mehr vorstellbar ist – „nach mir die Sintflut“. Auf der anderen Seite ein Politiker, der in der Lage ist, sich zu einer eindrucksvollen Geste des Republikanismus aufzuraffen. Aber Bahners' Thema war der Mythos von der Unersetzlichkeit Kohls. Zu dessen möglichem, schlichten Ende ist ihm nichts eingefallen.

Der den Lesern des Feuilletons der FAZ wohlvertraute Autor hat eine geistvolle und dabei kurzweilige Analyse des Phänomens Kohl vorgelegt. In deren Zentrum steht die scheinbar paradoxe These, daß der Mann, der sein ganzes Leben der Politik verschrieb, von der Eigenart des Politischen nichts wissen wollte, daß er vielmehr Politik zerstörte. Bahners zitiert Kohl mit dem Satz: „Ich habe immer versucht, Prinzipien des privaten Lebens in die Politik zu übertragen.“ Und Bahners schreckt selbst nicht davor zurück, Kohls Politikverständnis in die Nähe derer zu rücken, mit denen der Kanzler eine lebenslange gegenseitige Abneigung teilte, der 68er. „War im Gesamtkunstwerk dieses Politikerlebens für die Privatsphäre noch Platz? Kohls Sympathie für die aufbegehrende junge Generation war nicht geheuchelt. Er teilte mit ihr den Traum von der grenzenlosen Politik: Für ihn war das Persönliche politisch.“ Bahners zitiert einen Ausspruch der Mutter Kohls, Cäcilie, den der Sohn oft im Munde führte: „Was im privaten Leben gut ist, ist auch in der Politik gut.“ Und Freiheit besteht für Kohl im „privaten, selbstgebauten Glück“.

Zum Beweis dieser These führt Bahners Kohls betonten Antiinstitutionalismus, seine Laxheit gegenüber verfassungsmäßig normiertem Regierungshandeln ins Feld. So habe das System der Koalitionsabsprachen und der Vorentscheide im Kreis der Auserwählten das Bild der Exekutive bestimmt. Kohl haßte nach Bahners Festlegungen. Er spricht von der Vorliebe des Kanzlers fürs Diffuse, von seinem Bestreben, „im sozialen Raum die Herausbildung fester Ordnungen zu verhindern“. Kohl wollte ausdrücken, was „die Massen“ wollen, er wollte mit ihnen unmittelbar kommunizieren, jenseits der Apparate, aber auch jenseits der Distanz, die das Ethos „des Politischen“ dem Staatsmann auferlegt. Auch im Augenblick seines größten Triumphs, als die deutsche Einheit zum Greifen nahe ist, gilt für Kohl „der Primat der Innenpolitik, der parteipolitische Vorteil und seine eigene Macht“.

Am stärksten ist Bahners Analyse dort, wo er Aussprüche und Haltungen Kohls mit hermeneutischer Finesse auseinandernimmt. So merkt er zu Kohls Lieblingsmetapher von der Partei als Floß an, daß die CDU in der Vorstellung ihres Meisters nicht das gefahrvolle Meer, sondern den Rhein befuhr; so deckt er hinter Kohls selbstkritischem, täglichem Blick auf den Rasierspiegel den Vorsatz auf, sich ohne jede Einschränkung ernst zu nehmen; und so entziffert Bahners, ganz als ob er Michail Bachtins geniale Analyse des Karnevals gelesen hätte, hinter Kohls Unbehagen am Treiben der Narren seine Unfähigkeit, die festgefügte Welt der Formen und Rollen im Karneval zu akzeptieren.

Patrick Bahners erweist sich in seiner Kritik Kohls als Anhänger eines „klassischen“ Republikanismus. Allerdings übertreibt er etwas die antike Pose. Zur Charakterisierung seines negativen Helden bemüht er (in zeitlicher Reihenfolge) Fabius Maximus Cunctator, den jüngeren Cato, Tiberius Gracchus, Caesar, Pompejus und Cornelius Tacitus. Das ist schön zu lesen, aber ein Unternehmen voller Fallstricke. Die Klassiker transportieren zwar eine konzentrierte politische Welterfahrung, aber in ihrem Urteil dominiert ein festgefügtes Bild der Leidenschaften, die über Wohl und Wehe der Individuen wie des Staates entscheiden.

Indem sich Bahners diese Sichtweise zu eigen macht, schneidet er jede Erörterung über die Frage ab, inwieweit Kohl ein Kind seiner Zeit ist, in welcher Art er auf politische Probleme reagiert, die diese Zeit für ihn bereithält, und wie die Resultate von Kohls Regierungstätigkeit im Ergebnis zu bewerten sind. Das Wörtchen „Arbeitslosigkeit“ taucht zweimal im Text auf (davon einmal als Metapher), das Wörtchen „Globalisierung“ wird man vergebens suchen.

Patrick Bahners: „Im Mantel der Geschichte. Helmut Kohl oder die Unersetzlichkeit“. Siedler Verlag, Berlin 1998, 192 Seiten, 34,90 DM