: Melancholie des Schreibens
Fliegender Ornithologe: In den Essays „Logis in einem Landhaus“ übt W.G. Sebald den literarischen Blick aus großer Fremde und Milchstraßenferne ■ Von Hans-Ulrich Treichel
Ein Ornithologe muß nicht fliegen können, um seine Arbeit gut zu machen. Und wenn sich ein Literaturwissenschaftler essayistisch oder in Aufsatzform über Autoren wie Jean- Jacques Rousseau, Johann Peter Hebel, Gottfried Keller, Eduard Mörike oder Robert Walser äußert, dann wird der Leser mit Recht keinen Erzähltext, sondern Belehrung und Information erwarten – und möglicherweise auch das, was man einen Forschungsbeitrag nennt. Wenn aber ein Schriftsteller über die gleichen Autoren schreibt, dann erwarten wir etwas anderes. Schließlich verfügt der über Literatur schreibende Literat über eine besondere Autorität, die ihn vom bloß akademisch gelehrten Autor unterscheidet. Es ist die Autorität dessen, der in die Geheimnisse der literarischen Produktivität eingeweiht scheint und gleichsam hinter dem Vorhang agiert. Kommen schließlich theoretisches Wissen und künstlerische Erfahrung zusammen, könnte es sich um einen Glücksfall an Kompetenz handeln und um einen Vertreter jener – im deutschen Sprachraum – noch immer seltenen Spezies der fliegenden Ornithologen.
Zu dieser Spezies zählt auch der an der University of East Anglia in Norwich lehrende Schriftsteller und Germanist W.G. (=Winfried Georg) Sebald, der Bücher über Sternheim, Döblin und die österreichische Literatur vorgelegt hat, dem Publikum aber mit seinen literarischen Werken, vor allem dem Erzählungsband „Die Ausgewanderten“ (1992), bekannt wurde. Seine nun erschienenen Essays sind außerordentlich lesbare, in einem diskreten, zuweilen auch wehmütig leisen Ton geschriebene Texte, in denen sich der Wissenschaftler eher zurückhält und der Erzähler den Ton angibt. Keine „Forschungsbeiträge“ also, sondern sehr persönlich gestimmte Lektüren, die, würde man sie wissenschaftskritisch beurteilen, recht altmodisch erschienen. Ihr Interesse ist nicht texttheoretischer, sondern vor allem biographischer Natur. Wobei sich der biographische Aspekt auf methodisch ebenso altmodisch erscheinende Weise immer wieder mit dem sozialgeschichtlichen berührt.
Ausgangspunkt der Essays ist Sebalds „immer konstant gebliebene Vorliebe für Hebel, Keller und Walser“. In Hebels „Schatzkästlein des rheinischen Hausfreunds“ erblickt er mit Walter Benjamin „eines der lautersten Prosawerke der deutschen Literatur“. Sebalds Nähe zu Hebel verdankt sich allerdings nicht nur den spezifischen Texteigenschaften der Kalendergeschichten. Es ist auch die „Tatsache, daß mein Großvater, dessen Sprachgebrauch in vielem an den des Hausfreunds erinnerte, die Gewohnheit hatte, auf jeden Jahreswechsel einen Cempter Kalender zu kaufen“. Hierin notierte der Großvater dann Geburtstage, Hagelschlag und Schnapsrezepte, und Sebald wird die Ordnung des Kalenders zum Inbild einer „im Gleichgewicht gehaltenen Welt“.
Überhaupt herrscht ein erinnerungsseliger und leicht heimwehkranker Ton in diesen Essays. Deuten wir dies biographisch, dann liegt es wohl daran, daß der Autor im Ausland lebt und lehrt. Deuten wir es von der Sache her, dann hat es eher mit der Literaturauffassung Sebalds zu tun. Scheint doch der literarische Blick immer aus der Fremde und Ferne zu kommen, vielleicht sogar „von der Milchstraße herab“. Und was er in den Blick nimmt, ist nichts „als die öde und schwarz im Weltall sich drehende, ausgebrannte Ruine der Erde“, auf der wir unsere Kindheit verbrachten, welche allerdings „kaum weiter zurückliegt als der gestrige Tag“.
Schreiben, so scheint es, ist immer ein Schreiben aus dem Exil heraus. Und damit per se ein hochmelancholischer Zustand. Auch Jean-Jacques Rousseaus Aufenthalt auf der Ile de Saint-Pierre im Bieler See war eine Art kurzes, zweimonatiges Exil. Sebald ist ebenfalls auf die Insel gereist und hat sein Zimmer gleich neben den Räumen bezogen, die Rousseau dort im September und Oktober 1765 bewohnte und die er nun besichtigt. Das tut er ungehemmt identifikatorisch; vielleicht nicht wie ein gewöhnlicher Tourist, aber doch wie ein echter Bildungstourist: „Mir aber war es in dem Rousseauzimmer, als sei ich zurückversetzt in eine vergangene Zeit.“
Daß Rousseau von sich behauptet, nicht nur vor seinen politischen Gegnern, sondern auch vor dem Schreiben geflohen zu sein, macht dieses Inselexil zu einem doppelten. Freilich handelt es sich hierbei um eine Selbstmystifikation. In Wahrheit produzierte Rousseau unermüdlich weiter, und Sebald läßt sich dankenswerterweise nicht verführen, Rousseaus Selbstmystifikation zu folgen, auch wenn sich dies im Sinne des eigenen melancholischen Literaturbegriffs gut gefügt hätte. Rousseaus „dégout“ vor der Literatur nimmt er allerdings ernst. Schließlich gehört nicht nur die Sucht nach der Literatur, sondern auch der Ekel vor ihr zur Konstitution des modernen neuzeitlichen Autors.
Rousseau versucht sich vor der Literatur zu retten, indem er botanisiert. Allerdings holt ihn hierbei sein Schreibzwang wieder ein, und er stellt sich vor, „ausnahmslos alle Pflanzen zu beschreiben und dies mit soviel Einzelheiten, daß ich für den Rest meiner Tage damit zu tun hätte“. Besser und erholsamer ist es, auf den See hinauszurudern. Dort streckt er sich im Kahn aus und läßt sich „langsam vom Wasser abtreiben, oft mehrere Stunden lang“. Für den Arbeitswütigen kann Muße anscheinend nur als eine Art „Totstellreflex“ gelingen. Als einen Totstellreflex deutet Sebald auch eine ganze Epoche – das Biedermeier, zu dessen herausragenden Autoren Eduard Mörike gehört. Das Glück im Winkel, als das sich uns das Biedermeier gemeinhin darbietet, ist umstellt von der sozialen Chaosdrohung: „Angst vor dem Bankrott, vor Diskreditierung und Deklassement“. Der aus dem Dienst geschiedene Pfarrer Mörike erfährt diese gesellschaftliche Angst als Symptombündel am eigenen Leib; als „Schwindel“, „Kopfschmerz“, „Horror“, „Depression“ und „Ohnmachten“. Letztere deutet Sebald als „Korrespondenzen der Macht, die sich nun in Deutschland konsolidiert“.
Ob sich individuelle Symptome wirklich so einfach auf gesellschaftliche Phänomene beziehen lassen, ist gewiß fraglich. Daß es Phänomene gibt, die sich der soziologischen Deutung entziehen, weiß natürlich auch Sebald. Speziell das Phänomen der literarischen Produktivität nennt er ein „weitgehend unerschlossenes Geheimnis“, um zugleich doch zu versuchen, dieses ein wenig zu lüften. So verdankt sich die Produktivität eines Stifter, Keller, Walser und Mörike beispielsweise nicht nur einem „seltenen handwerklichen Geschick“, sondern auch einem „sehr langen Gedächtnis“ und einem „gewissen Mangel an Liebesglück“.
Letzteren erfuhr nicht nur der physisch benachteiligte Gottfried Keller, dessen Leben „trotz einem tiefen Liebesbedürfnis und einer offenbar unerschöpflichen Liebesfähigkeit“ von Zurückweisung und Enttäuschung gekennzeichnet war. Auch Robert Walser wurde der Mangel an Liebesglück gleichsam im Überfluß zuteil. Walser ist, mit einem Wort seines Namensvetters Martin Walser, „von allen alleinstehenden Dichtern der alleinstehendste gewesen“. Obwohl Sebald einräumt, daß Walser nach wie vor eine „unerklärliche Gestalt“ sei, findet er doch eine Erklärung für Walsers Weg in die Krankheit und das Verstummen als Schriftsteller. Walser habe, so Sebald, schreibend seine „Depersonalisation“ vollzogen, um den „Idealzustand der reinen Amnesie“ zu erreichen.
Sebald sagt es nicht explizit, aber wir lesen es doch aus seinen Essays heraus: daß alles Schreiben immer auch eine Art Abrißarbeit ist, gespeist von dem Wunsch, von aller Erinnerung und aller Subjektlast befreit zu sein. Daß dieser Wunsch sich niemals erfüllt und niemals erfüllen kann, bewirkt das Verhängnis: den Zwang zu fortgesetzter Produktion, dem sich so mancher Schriftsteller ausgesetzt sieht und dem er niemals entkommt. Es sei denn, er macht es wie Robert Walser und hört auf, ein Schriftsteller zu sein.
W.G. Sebald: „Logis in einem Landhaus“. Über Gottfried Keller, Johann Peter Hebel, Robert Walser u.a. Hanser Verlag, München 1998, 240 Seiten, 36DM
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