: Spezialisten für Selbsthaß
Buchmessenthema Schweiz: Die junge Schweizer Garde sucht Erlösung vom „Diskurs in der Enge“. Romane von Franz Hohler, Thomas Hürlimann, Ruth Schweikert, Silvio Huonder, Urs Richle und Jan Lurvink ■ Von Michael Braun
Was hat sie sich in den vergangenen Jahren nicht alles nachsagen lassen müssen, die Schweizer Literatur! Wer nur einen Bruchteil der Klischees, die über die Schweiz und die helvetische Schreibkunst zirkulieren, für bare Münze nimmt, muß zur Überzeugung gelangen, die Schweiz sei der unliterarischste Ort der Welt, ein nicht nur langweiliges, sondern auch bösartiges Idyll. Die kräftigen antipatriotischen Invektiven, mit denen die berühmten Schriftsteller des Landes fast schon traditionsgemäß auftrumpfen, werden oft umstandslos auf die Schweizer Literatur selbst ausgedehnt. Den wirkungsmächtigsten Topos von der kleingeistigen Schweiz hat der Schriftsteller Paul Nizon in Umlauf gebracht, der schon früh vor der helvetischen Weltfremdheit nach Paris geflohen ist. In seinem 1970 erschienenen „Diskurs in der Enge“ geißelt Nizon das kleingeistige und antiurbane „Schicksalsklima“ seines Landes, in dem „kein echter Lebensstoff dem Schriftsteller zufließen“ könne – eine Diagnose, die er 1991 noch einmal bekräftigte.
Der Selbsthaß scheint also eine helvetische Literaturspezialität zu sein. Diese seltsam masochistische Energie hat speziell die deutschschweizer Literatur getroffen. „Ist die Schweizer Literatur am Ende?“ war die obligatorische Frage, die nach dem Tod von Dürrenmatt und Frisch durch die Feuilletons dröhnte – und nur sehr wenige kluge Köpfe haben diese Frage als nicht allein rhetorisch, sondern auch als vollkommen blödsinnig zurückgewiesen. Statt dessen preschte der eidgenössische Chefkritiker Andreas Isenschmid vor, um in einer auffällig geistverlassenen Polemik das Ausbleiben des „großen Schweizer Romans“ zu beklagen und die Schweizer Literatur insgesamt als „ein totes Feld“ zu denunzieren.
Wer die Produktionen der literarischen Saison 1998 durchmustert, wird freilich wenig Belegmaterial für diesen wohlfeilen Provinzialitäts-Verdacht finden. Gewiß gibt es auch noch am Ende des Jahrhunderts jene Poetik der Langsamkeit, die in der Beschreibungsgeduld von Gottfried Kellers „Grünem Heinrich“ ihr Vorbild gefunden hat. Ein dergestalt bedächtiges, lineares Erzählen kultiviert etwa Franz Hohler in seiner ersten Novelle „Die Steinflut“, die in leiser Beschwörung alter Lebensformen den historischen Bergsturz in dem kleinen Schweizer Flecken Elm rekonstruiert. Mit solch altehrwürdiger Katastrophen-Novellistik provoziert Hohler natürlich den Vorwurf, er betreibe nur noch helvetische Folklore.
Franz Hohler, „Die Steinflut“. Novelle. Luchterhand Verlag, München 1998, 160 Seiten, 29,80 DM
Für eine andere Variante dieser Katastrophenpoetik gilt noch immer das Diktum Friedrich Dürrenmatts: „Eine Geschichte ist erst dann zu Ende gedacht, wenn sie die schlimmstmögliche Wendung genommen hat.“ Als ein legitimer Erbe dieser katastrophischen Poetik kann Thomas Hürlimann gelten, der seit seinem Prosaerstling „Die Tessinerin“ (1981) mit großer Konsequenz und großem Fatalismus an „schlimmstmöglichen“ Geschichten arbeitet. Schon in der „Tessinerin“ war er nach zwei Sätzen beim Tod angekommen. In seinem neuen Roman „Der große Kater“ dauert es nur wenig länger, bis der Protagonist, der Schweizer Bundespräsident, der tödlichen Finalität gewahr wird und vom Hauch des „Nichts“ und vom „Wahnsinn des Sterbens“ gestreift wird.
Besagter Bundespräsident, der da als „großer Kater“ im Juli des Jahres 1979 das „Ende“ erwartet, wird bedrängt von einer schrecklichen Gewißheit: daß sein schwerkranker Sohn im Spital demnächst einen grausamen Krebstod sterben wird. Und dennoch versucht er, äußerlich ungerührt, seinen Amtspflichten nachzukommen, versucht er, bedroht durch eine Intrige seines politischen Intimfeindes, den von den Medien begierig erwarteten Staatsbesuch des spanischen Königspaars protokollgerecht über die Bühne zu bringen. Der Bundespräsident des Romans – das hat sich mittlerweile herumgesprochen – ist niemand anderes als der langjährige Bundesrat Hans Hürlimann, der Vater des Autors, der im Jahr 1979 als schweizerischer Bundespräsident amtierte. Der schwerkranke Sohn des Präsidenten ist Mathias Hürlimann, dessen früher Tod im Alter von 20 Jahren zur traumatischen Urszene für seinen Bruder, den Schriftsteller Thomas Hürlimann, wurde.
Noch einmal kehrt Hürlimann also für die Dauer des Romans an das Sterbebett des Bruders zurück, zum Ursprung jener Lebenstragödie, „worüber ich schreiben wollte und nicht schreiben kann“, wie es in einer berühmten Parenthese der „Tessinerin“ heißt. Immer wieder hat er aber, nicht nur in der „Tessinerin“ und in der zu Recht gerühmten Novelle „Das Gartenhaus“ (1989), dieses Sterben eingekreist und „über das Verenden gesprochen“. Noch nie aber hat uns der Autor so tief in den Abgrund seines Familiendramas blicken lassen, noch nie hat er autobiographische Erfahrungen – bei aller fiktionalen Verspiegelung – so unverdeckt durchgespielt.
Wer Hürlimanns Roman als große politische Offenbarungsschrift über eidgenössische Zustände lesen will, wird enttäuscht werden. Denn wenn der Autor seine helvetischen Politiker und Würdenträger agieren und reden läßt, geht er bis an die Grenze der satirischen Karikatur und des Slapsticks, ja oft weit darüber hinaus. Aber Hürlimanns verstörende Bilder aus der Kindheit des Präsidenten: das Aufwachsen in schlimmer Armut; die Demütigungserfahrungen des Klosterschülers; die Verlassenheit des elternlosen Knaben – das sind große Momente heutiger Erzählkunst, die dieses Buch herausheben aus der langen Reihe von Vaterromanen.
Thomas Hürlimann: „Der große Kater“. Roman. Ammann Verlag, Zürich 1998, 240 Seiten, 38 DM
Wie autobiographisches Schreiben den Aporien naiver Selbstentblößung entgehen kann, führt auch Ruth Schweikerts Romanerstling „Augen zu“ vor, der zweite große Schweizer Titel dieses Herbstes. Wie in einer berühmten Erzählung Ingeborg Bachmanns (“Das dreißigste Jahr“) wird hier das dreißigste Lebensjahr der Romanheldin zum Dreh- und Angelpunkt einer schmerzhaften Selbstvergewisserung des schreibenden Ich.
Als künstlerische Identifikationsfigur und als Imago einer gefährdeten weiblichen Schöpferkraft erscheint die Malerin Paula Modersohn-Becker. Die Romanheldin, die dreißigjährige Malerin Aleks Martin Schwarz, versteht es indes, ihre Lebenswünsche und Aufbruchphantasien ungleich erfolgreicher zu realisieren als die unglückliche Modersohn-Becker. Wo die künstlerische Selbstverwirklichung der Paula Modersohn an den Karriereplänen ihres Mannes scheitert, da entfesselt Aleks das gesamte Potential ihrer Wünsche und Visionen – und siehe da: Gegenüber der Macht der Utopie haben die Ernüchterungsmechanismen der profanen Wirklichkeit das Nachsehen.
In vielen kunstvollen Vor- und Rückblenden erzählt der Roman aber nicht nur von der Befindlichkeit der dreißigjährigen Malerin Aleks Martin Schwarz im Juni des Jahres 1995, sondern eben auch von einer weitverzweigten Familiengeschichte, die der Schicksalswende in diesen Junitagen voraus gehen. Und in der knappen, lakonischen Darstellungsweise, in der diese familiären Schreckensgeschichten, die Erfahrungen von Leben, Tod und Verlassenheit erzählt werden – darin liegt die hohe Kunst der Ruth Schweikert. Beklemmende Fluchtgeschichten jüdischer Emigranten, traumatische Erfahrungen mit dem Luftkrieg und dem Verschüttetwerden, gewaltsam abgebrochene Biographien, Abstürze kleinbürgerlicher Ehen in Alkoholismus und Wahnsinn – all das wird auf knappem Raum zusammengezogen und in einem Roman von gerade mal 160 Seiten komprimiert. Das Verhängnis bricht hier nicht mit Dürrenmattscher und Hürlimannscher Wucht unaufhaltsam herein, sondern es ist ein utopischer Überschuß da, ein epischer „Möglichkeitssinn“ (Robert Musil), der auf Entwürfe eines gelingenden Lebens zielt.
Ruth Schweikert: „Augen zu“. Roman. Ammann Verlag, Zürich 1998, 160 Seiten, 38 DM
Gegen düstere Verhängnisforscher wie Hürlimann sind mittlerweile leichtgewichtigere Erzähler angetreten. Zu ihnen ist Silvio Huonder zu rechnen, der in seinem Entwicklungsroman „Übungsheft der Liebe“ einen jungen Deserteur und abenteuerhungrigen Taugenichts in die Welt hinausschickt, wo ihm unterwerfungsbereite Frauen zu Füßen liegen und ihn in die Geheimnisse der Liebe einweihen.
Diesem jungen Don Juan der späten siebziger Jahre stehen alle Türen und Reißverschlüsse offen. Als Hahn im Korb diverser Frauen-WGs durchläuft er eine aufregende, zuweilen auch tragikomische sexuelle Sozialisation. Den Politisierungsversuchen seiner Freunde, die den Deserteur zum Kronzeugen wider die Schweizer Armee stilisieren wollen, widersetzt er sich energisch. Das Lebensprogramm des 20jährigen Helden ist nicht die Weltverbesserung, sondern der Hedonismus.
Levitation ist auch die literarische Maxime dieses Romans: die Abkehr von modernistischer Überkomplexität zugunsten eines naiv-realistischen Erzählens, das alle ästhetischen Skrupel rasch verscheucht. Schon die Eingangsszene des Romans, in der sich der junge Held mit einer „schönen Unbekannten“ in „hauchdünnen schwarzen Strümpfen“ und einem „kurzen Wildlederrock“ zu heftiger Spontan-Kopulation auf die Zugtoilette begibt, signalisiert unzweideutig, daß mittlerweile auch in der literarischen Schweiz die Lust auf die Kolportage ausgebrochen ist.
Silvio Huonder: „Übungsheft der Liebe“. Roman. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1998, 210 Seiten, 34 DM
Auch Urs Richle, einer der profiliertesten Erzähler der jüngeren Schweizer Autorengeneration, scheint in seinem neuen Kriminalroman hochgradig infiziert zu sein von dem Bedürfnis nach Vereinfachung seiner Romancharaktere. In „Hand im Spiel“ versucht Richle ein labyrinthisches Verwirrspiel um Mord und Totschlag, Geld und Gier, Panik und Paranoia zu inszenieren – und in diese Kriminalgeschichte zusätzlich eine Topographie der Stadt Genf einzuzeichnen.
Alle Ingredienzien einer soliden Kriminalstory sind dabei zweifellos vorhanden: Ein Verwirrspiel um eine schwarze Ledertasche, eine Erpressung, zwei brutale Morde, mafiotisch verstrickte Diplomaten, skrupellose Bankiers, hemmungslose Killer – und das alles fokussiert auf den Schauplatz Genf, auf berühmte Cafés und Hotels, wovon eines spätestens seit dem mysteriösen Tod eines deutschen Ministerpräsidenten in einer Badewanne Unsterblichkeit erlangt hat.
In seinem Erzählverfahren orientiert sich der Autor offenkundig an Robert Altmans Film „Short Cuts“, an der episodischen Parallelführung von Figuren und Schicksalen, deren Wege sich an diesem einen Tag und in dieser Nacht in Genf zufällig kreuzen. Dabei wird allerdings der Zufall auf krudeste Weise als Handlungskatalysator strapaziert.
Als wolle er die mangelhafte Charakteristik seiner Romanfiguren kompensieren, verlegt sich Richle darauf, seine Helden allüberall als coole Kettenraucher vorzuführen. „Hast du denn keine einzige verdammte Zigarette in deiner Limousine?“ heißt ein ums andere Mal die Schicksalsfrage, die an Originalität selbst noch hinter den fadesten „Derrick“ zurückfällt.
Urs Richle: „Hand im Spiel“. Roman. Eichborn Verlag, Berlin 1998, 296 Seiten, 39,80 DM
Die überraschendste und gewiß melancholischste Stimme der jungen Schweizer Literatur kommt aus Basel. Jan Lurvink, 1965 im Aargau geboren und im Hauptberuf Organist, hat einen wunderbar leisen Romanerstling vorgelegt, ein sorgfältig komponiertes Werk voll melodiöser Prosa, ein epischer Versuch über die Vergänglichkeit und zugleich ein resignativer Bericht eines künstlerischen Nachgeborenen. Mit filigran gebauten Sätzen und in wohlgeformten Perioden erzählt Lurvink die künstlerische Erweckungsgeschichte eines Orgelspielers, der schon früh gelernt hat, sich in Demut zu üben und sich im Orgelspiel vor der Welt zu verbergen. Als orgelspielender Verbergungskünstler gewinnt er aus seinen musikalischen Lektionen und stillen Einsamkeiten die Einsicht in die Vergänglichkeit menschlichen Lebens und wirft einen illusionslosen Blick auf alle Daseinserfahrung.
Gleich zu Beginn des Romans tritt er dem Leser als eine Art Kurier des Todes entgegen: Denn seine kleine Wohnung liegt über den Räumen eines Bestattungsunternehmens, in denen leere Särge auf leblose Benutzer warten. Vom Fenster dieser Wohnung aus beobachtet er die kleinen und großen Trauerprozessionen auf dem Friedhof und die verzweifelten Rituale der Lebenden, sich den täglich näherrückenden eigenen Tod vom Leib zu halten. Auf der „Königin der Instrumente“, der Orgel, liefert er selbst in Kapellen und Kirchen die passende Begleitmusik zu den immergleichen Schauspielen der Vergänglichkeit.
Lurvinks Roman endet mit dem makabersten Bild der Sterblichkeit: Am Alltag eines Krematoriumsangestellten wird gezeigt, wie der Mensch nach dem Tod buchstäblich pulverisiert wird. Auch wenn der Roman „Windladen“ beharrlich von der Vergeblichkeit unserer Lebens- und Kunstanstrengungen erzählt – als ungemein kunstvoller Beitrag zu jenen „gekritzelten Linien, die noch einmal gegen das Vergessenwerden anflackern“, wird er noch viele lärmende Romane und Erzählungen seiner Kollegen überleben.
Jan Lurvink: „Windladen“. Roman. Dumont Verlag, Köln 1998, 190 Seiten, 34 DM
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