: Wer ist sie?
■ Kollektive Erfindungsprozesse und Subjektkonstruktionen: Martin Crimps Angriffe auf Anne im TiK
Das Theater ist langsam. Die Sache mit der Postmoderne, Fragmentierung und entsprechenden Subjektbegriffen hat es schwer in einem Medium, dessen zentrales Element, neben der linearen Geschichte, die psychologische Einheit „Rolle“ ist. Die ist als geschlossenes homogenes Gebilde bühnentechnisch geeigneter, und so muß das Theater manchmal etwas hinterherhinken. Aus England kommt zur Zeit vieles, das dafür sorgen wird, daß das auch weiter so bleibt. Neue britische Gebrauchsdramatik ist der Erfolgsgarant der Berliner Baracke und überschwemmt über dieses Importventil den Rest der Republik. Das ist zwar schön, weil die Stücke jung und szenig sind, doch leider sind die meisten davon sehr konventionelle well-made-plays in bester Tradition des anglo-amerikanischen Psychorealismus.
Nicht so Attempts on her life des Londoners Martin Crimp. „17 Szenarien für das Theater“ ist der Untertitel dieser Annäherung an Anne. Es gibt wirklich keine Szenen, sondern Szenarien, vor allem aber keine Geschichte und keine Figur. Anne taucht nie wirklich auf – und auch sonst niemand, der eindeutig beschrieben wäre oder gar später wiedererkannt werden würde. Wir erfahren etwas über die Nachrichten auf Annes Anrufbeantworter, vielleicht über ihre Eltern, wahrscheinlich über Anne im Krieg, Betrachter von Annes Nachlaß und darüber, wie eine Werbesendung für Anne aussehen könnte. Der Text enthält keine Angaben über Besetzung oder gar Personen, sondern nur den Hinweis, wann jeweils jemand anderes spricht. Die dabei entstehenden kleinen Geschichten über Anne passen nicht zusammen und geben doch ein Bild – nicht von Anne, aber von Identitätskonstruktion im 20. Jahrhundert.
Regisseur Leonard Koppelmann hat sich für eine Besetzung mit zwei Männern und drei Frauen entschieden, die alle, wie auch der gesamte Stab, um die 30 sind: „Der ähnliche Erfahrungshorizont ermöglicht uns einen gemeinsamen Erfindungsprozeß, den Versuch, eine heutige Figur zu konstruieren.“ Er beschreibt den Grundvorgang des Stücks als „Halluzinieren vor dem Fernseher“, und entsprechend werden die Darsteller zwischen extremen Haltungen zappen. Jeder spielt etwa 15 Rollenfragmente, und so bekommt der weitgehend undramatische Text seine Dramatik nicht durch emotionales Spiel, sondern durch den schnellen Wechsel der angedeuteten Situationen. Koppelmann nimmt diese da ab, wo sie abgefilmt wurden, Bosnien, Elternhaus, Studio, Verhandlungssaal etc., und läßt sie alle vor der zugemauerten Bühne des Tiks zwischen und über den Zuschauern stattfinden.
„Die Figur ist in diesem Stück wie ein zerschlagener Spiegel, der auch immer ein Stück des Betrachters mit zurückwirft.“ Crimp spielt sehr clever mit Erwartungen und dem Bedürfnis nach Zusammenhängen und funktionierender Wirkungsmechanik. Immer wieder legt er Spuren, immer wieder versucht man, sich doch sein eigenes Anne-Bild zu basteln. Bis im nächsten Szenarium aus der alten Terroristin eine junge Mutter wird, wieder ein „attempt“ gescheitert ist und man letztlich vor allem etwas über das eigene Bedürfnis nach Integrität erfahren hat.
Matthias von Hartz
Premiere: Samstag, 10. Oktober, 20 Uhr, Thalia in der Kunsthalle /TiK
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen