In Notwehr gegen die Datenflut

■ Nach der Euphorie die Ernüchterung: Der neueste Trend der Webkunst räumt mit dem weltweiten Informationsmüll im Internet auf: Ganze Websites werden recycelt, kompostiert oder auch nur alphabetisch in ihre Ei

In nur fünf Jahren ist das Internet von einer beschaulichen, akademischen Bibliothek zu einem undurchdringlichen Informationsdschungel geworden. „Einst war Information so rar und so wertvoll wie Kaviar, jetzt ist sie so vielfältig und selbstverständlich geworden wie Kartoffeln“, schreibt der amerikanische Journalist David Shenk in seinem Buch „Data Smog“. Doch die Rettung ist nah: Eine Reihe von neuen Netzkunstprojekten entsorgen und recyceln die überflüssigen und unverdaubaren Daten – ein ironischer Kommentar zu den wachsenden Mengen von „Data Trash“ (Arthur und Marilouise Kroker), der nicht nur das Internet, sondern auch unsere Wahrnehmungskanäle verstopft.

„The Landfill“ (1998) von Mark Napierwww.potatoland.org/landfill/), „Dump your trash“ (1998) von Karl-Heinz Jeron und Joachim Blank (sero.org/sero/ dyt/), Amy Alexanders „Multi- Cultural Recycler“ (1997, shoko. calarts.edu/alex/recycler.html) und der „ArchiVirus“ (1997) von Manu Luksch, Armin Medosch und Richard Steckel (www.sil.at/m/AV/) sind Projekte aus dem jungen Genre der Netzkunst, die sich mit dem Thema der Informationsentsorgung beschäftigen.

„The Landfill“ (Die Müllkippe) des New Yorker Künstlers Mark Napier lädt den Betrachter dazu ein, seine digitalen Daten zu entsorgen. Napier hat ein ausgetüfteltes Interface in der Scriptsprache „Perl“ programmiert, in das der User eigene Dateien aus der „Trashcan“ auf seinem Desktop oder von fremde Websites hineinkopieren und dadurch „auf den Müll werfen“ kann. Innerhalb weniger Sekunden erscheinen diese Daten auf dem Computermonitor, in einer manchmal abenteuerlichen Kombination mit dem Infoschrott anderer Netzsurfer.

Als würde man einen Müllhaufen Schicht für Schicht durchkämmen, kann man sich immer tiefer in die vergammelten Informationen hinabgraben. Dabei tauchen neben unleserlichen Texten bekannte Bilder aus dem Netz auf. Das Logo der Suchmaschine Yahoo!, die Homepage des CIAs, Pressemitteilungen von Microsoft und Playmates von der Internet- Site des Playboys lösen sich in einem wüsten digitalen Durcheinander auf, als würden sie tatsächlich langsam auf dem Server von Napier verrotten wie auf einem Komposthaufen. Was immer diese Daten uns einmal mitteilen sollten: in „The Landfill“ wird ihr „Inhalt“ zu einem grafischen Rohmaterial degradiert.

Wenn die Homepage zur Grabplatte wird

Man könnte „The Landfill“ ein Stück automatisierter Pop-art nennen: Die Aufeinanderschichtung von populärkultureller Ikonographie aus dem Internet erinnert an die Siebdrucke eines Robert Rauschenberg, freilich mit einem wichtigen Unterschied: Nicht der Künstler entscheidet über die Auswahl der Motive und deren Plazierung. Vielmehr entsteht die Arbeit aus den Beiträgen aller Benutzer, die damit an einer Art kollektiven Kunstwerks teilnehmen. Napier: „Mir gefällt die zufällige und unvorhersehbare Entwickung dieses Projekts, das von seinen Benutzern gestaltet wird. Jeder kann sich an ,The Landfill' beteiligen, und jeder bringt seine eigenen Vorstellungen in diese Arbeit ein. Einige Leute haben ihre eigenen digitalen Kunstwerke beigesteuert, andere haben Animationen hinzugefügt oder simple interaktive Spiele oder einfach nur ihre E-Mails.“

Die besten Netzkunstarbeiten reflektiert „The Digital Landfill“ durch dieses visuelle Sampling – das Internet mit seinen spezifischen, medialen Eigenschaften als künstlerisches Material. Napier betont, daß es ihm weniger um die Beseitigung von Daten geht (und in der Tat verschwinden die Daten nicht wirklich, sondern werden bloß aus ihrem Zusammenhang gelöst), sondern um ihre „Materialität“: „Wenn man digitalen Text aus seinem normalen Zusammenhang nimmt, ist er faszinierend anzusehen. Ich will die Aufmerksamkeit des Betrachters auf diese elektronische, textuelle, digitale Materie lenken und ihn ermutigen, sie aus ihrem Kontext zu nehmen und sich mal genau anzuschauen. Auch für sich genommen kann diese Textinformation wunderschön sein.“

Auch das Berliner Künstlerduo Joachim Blank und Karl Heinz Jeron arbeitet an der Wiederverwertung von Internet-Datenschrott. Schon die Adresse „sero.org“ ist eine ironische Referenz an die „Sekundärrohstoff-Verwertung“ – des Unternehmens, das in der DDR Papier, Glas und andere wiederverwertbare Materialen sammelte. Das Projekt „Dump your trash“ erlaubt den Netzsurfern, Web-Adressen in ein Formular auf der sero.org-Site einzutragen. Sie erhalten per E-Mail einen „elektronischen Abholschein“ für ihre recycelte Homepage. Das Ergebnis ist eine hellgraue, stark verfremdete Kopie des Originals, die man sich auf Wunsch auch in Marmor oder Granit meißeln lassen kann; gegen Aufpreis gibt es auch einem Transportwagen, damit man getrost nach Hause fahren kann, was man in Stein gehauen besitzt. „Dump your trash“ überführt die immateriellen Daten wieder in den „meatspace“ der materiellen Welt, in der Informationen immer noch eines stofflichen Trägers bedürfen. So wird die Homepage, die eigentlich Mitteilung vom Leben und der Existenz ihres Autors machen soll, zu einer Art mobiler Grabplatte.

Den Begriff des „Recyclings“ wörtlich genommen haben Manu Luksch, Armin Medosch und R. Steckel mit ihrem kleinen „ArchiVirus“: Wer dieses winzige Programm aus dem Internet auf seinen Computer kopiert, kann alle schriftlichen Dokumente auf der eigenen Festplatte in kürzester Zeit in ihre Bestandteile zerlegen: Alphabetisch sortiert erscheinen alle Buchstaben aus einer Datei, die mit dem „ArchiVirus“ behandelt wurde, auf dem Bildschirm, zusammen mit der ironischen Aufforderung, sie „als Rohstoff“ für neue Texte zu verwenden. An einer Internet-Version in der Programmiersprache Java wird derzeit gearbeitet.

„Spätestens seit Gigabyte-Festplatten billiger geworden sind als das simpelste Holzregal schwinden Angst und Zweifel beim Aussortieren, also Löschen von Daten“, schreiben die Künstler in einer „Gebrauchsanweisung“ für ihre Arbeit. Im Gegensatz zu „The Landfill“ und „Dump your trash“ ist die „Entsorgung“ von Informationen bei diesem „philosophischen Werkzeug“ nicht symbolisch: eine Datei, die einmal mit dem „ArchiVirus“ behandelt wurde, ist tatsächlich ein für alle mal unbrauchbar.

Auch Amy Alexanders „Multi- Cultural Recycler“ benutzt digitale Daten als Rohstoff für immaterielle Collagen: Mit einem Mausklick kann man die Bilder, die Web-Kameras auf der ganzen Welt von Büros, Kaffemaschinen, Getränkeautomanten oder vom Potsdamer Platz aufnehmen, nach einem Zufallsprinzip zu neuen Kompositionen zusammenfügen, die gelegentlich eine fast malerische Qualität haben.

Der Idealismus der ersten Stunde

Das künstlerische Recycling ist ein neuer Trend. Die Netzkunst, die Mitte der 90er Jahre entstand, wollte Information nicht vernichten, sondern akkumulieren. In dieser Zeit faszinierte das Internet Künstler und Theoretiker gleichermaßen als „endloses Archiv“ und wurde oft mit der „Bibliothek von Babel“ verglichen, die Jorge Luis Borges in einer Erzählung beschreibt.

Künstlerische Netzprojekte beschäftigten sich folgerichtig mit dem Sammeln und Auswerten von Informationen, wie etwa Antonio Muntadas „File Room“ von 1994: User sollen Informationen über Fälle künstlerischer Zensur in eine Datenbank eingeben, die dann online archiviert werden und abgerufen werden können.

Auch andere Netzkunstarbeiten wollten die User zu Mitproduzenten zu machen, indem sie eine existierende Infrastruktur mit Inhalt füllten. Die Müll-Projekte dagegen zielen auf das Gegenteil: „Content“ soll vernichtet werden – daß sie eben damit nur noch mehr Datenmüll erzeugen, ist eine feine, durchaus beabsichtigte Ironie.

Es ist kein Zufall, daß die drei Projekte gerade jetzt entstanden sind – also zu einem Zeitpunkt, zu dem die erste Interneteuphorie verflogen ist – und daß die Arbeiten von Künstlern stammen, die als Netz-Veteranen gelten können. Besonders an der künstlerischen Vita von Joachim Blank und Karl Heinz Jeron, die zu den Begründern des Anfang diesen Jahres abgewickelten Internet-Projekts „Internationale Stadt“ gehörten, läßt sich die Entwicklung vom Idealismus der ersten Stunde zu der Desillusionierung der Gegenwart ablesen. Eine der Dienstleistungen der Internationalen Stadt war es, daß sich jeder User eine eigene Homepage einrichten konnte. Da ist es eine um so sarkastischere Geste, mit „Dump your trash“ nun genau solche Homepages virtuell zu entsorgen.

Nun haben Kulturkritiker wie Neil Postman, Joseph Weizenbaum oder Clifford Stoll das Internet schon immer als eine Anhäufung sinn- und kontextloser Information dargestellt. Im Gegensatz zu dem klassischen Kulturpessimismus, der aus den Büchern Stolls oder Postmans spricht, betonen die Recycling-Projekte die Macht des Users gegenüber der Info-Entropie des Netzes. Sie kapitulieren nicht vor der Masse der Daten, sondern wollen sie mit ihren eigenen Waffen schlagen. Indem sie ihren BenutzerInnen einen kreativen und eigenständigen Umgang mit der Info-Flut erlauben, entkräften sie die Autorität der Datenmassen im Internet und verweisen auf die Möglichkeit eines selbstbestimmten, souveränen Umgangs mit den unüberschaubaren Informationsmengen. Auf die Frage, wie er selbst mit dem Überangebot an Information umgehe, antwortet Mark Napier: „Ich versuche, so weit es geht, Zeitungen, Zeitschriften, Radio und Fernsehen aus dem Weg zu gehen.“ Tilman Baumgärtel

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