: Vergessene Agenten
■ Helmut Müller-Enbergs, IM-Forscher in der Gauck-Behörde, über die Tätigkeit der Inoffiziellen Mitarbeiter der Stasi in der Bundesrepublik
taz: Ist das Thema Stasi im Westen das letzte offene Kapitel in der MfS-Geschichte?
Helmut Müller-Enbergs: Es ist ein vernachlässigtes Kapitel, bei dem wir noch in den Anfängen stecken.
Auf welche Materialien konnten Sie sich bei Ihrer Arbeit stützen?
Vornehmlich auf Publikationen über die Spionage und Dokumente der Hauptverwaltung A, der Spionageabteilung des MfS.
Gibt es noch viele davon?
Die HVA hat einen kläglichen Rest von 26 Regalmetern Akten hinterlassen, der aber einigen Aufschluß über Ziele und Arbeitsweise, mitunter auch zu Akteuren gibt. Außerdem führte ich intensive Gespräche mit inoffiziellen und hauptamtlichen HVA-Mitarbeitern über ihre Motive, Schwierigkeiten und Ängste.
Wie gelangten Sie an die vielen im Buch offen genannten Namen der im Westen tätigen IM?
Auch die HVA erfaßte ihre IM auf Karteikarten. Soweit es Bundesbürger betrifft, kamen die Karteikarten in Abschriften wieder zur Behörde zurück. Ob sie noch vollständig sind, weiß ich nicht. Ich habe jedoch keinen Hinweis auf das Gegenteil. Insofern gibt es einen recht guten Überblick über das bundesdeutsche IM-Netz der HVA im Dezember 1988.
Wieviele Agenten hatte die HVA damals in Westdeutschland?
Nach gegenwärtigem Kenntnisstand waren 1.553 Bundesbürger und Westberliner 1988 für die HVA inoffiziell tätig. Die wichtigsten von ihnen als „O-Quellen“, die direkt in den Zielobjekten saßen. Das waren 449. Von der zweitwichtigsten Kategorie, den „Abschöpfquellen“, gab es 133. Das waren meist Bürger, die Politiker, Wissenschaftler oder Militärs gesprächsweise abschöpfen konnten, ohne daß die Betreffenden von ihrer nachrichtendienstlichen Abschöpfung ahnten. Mitunter wußten nicht einmal die Abschöpfquellen, daß sie für das MfS arbeiteten.
Wie das?
Wegen des schlechten Images der Stasi in der Bundesrepublik gab sich die HVA gegenüber einem Kandidaten mitunter als jemand anderes aus. Ein typisches Beispiel ist der Fall „Schwarz“ (dahinter verbirgt sich der Journalist Gerhard Baumann, u.a. Ex-Mitglied des wehrpolitischen Arbeitskreises der CSU/die Red.). Der glaubte, seine von einem ranghohen Nachrichtendienstler abgeschöpften Informationen gingen an einen französischen Dienst. „Fremde Flaggen“ wie diese waren taktisch für die HVA besonders in Krisenzeiten wie der Niederschlagung des Prager Frühlings vorteilhafter. Umgekehrt konnten nach der Studentenrevolte in der sozialismusfreundlichen Szene etliche Bundesbürger mit offenen Karten als IM rekrutiert werden.
Wie kam die HVA an ihr West- Personal?
Gut die Hälfte der 1988 aktiven HVA-IM in der Bundesrepublik waren durch Tips anderer IM dazugestoßen, oft über Familien- und Freundschaftsbande. Trotz des Riesenaufwandes, den gesamten Besucher- und Reiseverkehr in die DDR systematisch zu sichten, wurden so nur elf Prozent der IM ermittelt. Wichtige Kontaktbörsen waren die Leipziger Messe oder offizielle Begegnungen. Auf immerhin zwei Prozent der späteren IM wurde man durch die Postkontrolle aufmerksam. Schließlich waren sieben Prozent aus der DDR Übergesiedelte IM und fünf Prozent Selbstanbieter.
Auf welche Personen konzentrierte sich die Stasi bei ihrer Rekrutierung?
Die HVA hatte ein Faible für eine sichere politisch-ideologische Einstellung, optimal war eine marxistisch-leninistische Überzeugung. Doch die war eher rar. Man war daher schon mit humanistischer Orientierung oder Friedensliebe zufrieden. Aber fast immer brachte die HVA auch Geld ins Spiel, weil sie das in der bundesdeutschen Gesellschaft für das entscheidende Bindemittel hielt. Während die DDR-IM gewöhnlich mit einem Taschengeld abgespeist wurden, erhielt der bundesdeutsche IM oftmals 800 bis 1.000 Mark monatlich. Für außergewöhnliche Leistungen konnten das schon mal 15.000 Mark sein.
Wo Geld und Bewußtsein nicht zogen, holte das MfS spezielle Karten aus dem Ärmel?
Freilich gehörte Erpressung dazu. Etwa moralische oder strafrechtliche Verfehlungen auch aus der Zeit vor 1945 wurden systematisch gesammelt. Das hieß bei der HVA keineswegs Erpressung, sondern „Wiedergutmachung“. Der Betroffene konnte sich durch inoffizielle Arbeit von seiner persönlichen Schuld entlasten.
Wo tummelten sich die meisten HVA-IM in der Bundesrepublik?
Daß sich die HVA lediglich für bestimmte Themen interessierte, nach Präferenzen und Zielobjekten vorging, spiegelte sich auch bei der Verteilung der IM wider. 25 Prozent agierten in Nordrhein- Westfalen, vornehmlich im Großraum Bonn, und 23 Prozent in Westberlin.
Also vor allem dort, wo es politisch am interessantesten war?
Politisch allein ist zuwenig. Gerade in den achtziger Jahren hatte die Wirtschafts- und Militärspionage erheblich an Bedeutung gewonnen. Es ist nicht ganz auszuschließen, daß Wirtschaftsspionage schon immer ein besonderes Gewicht hatte, ursprünglich hieß die HVA auch Institut für wirtschaftswissenschaftliche Forschung. Der SED-Parteitag 1971 hatte ja die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik postuliert, was sich auch bei der HVA durch die Einrichtung des Sektors Wissenschaft und Technik niederschlug. Die IM-Schwerpunkte 1988 sprechen für sich: 39 Prozent der bundesdeutschen IM waren auf Wirtschaft fixiert, 19 Prozent auf Politik und Verwaltung, acht auf Militär und fünf auf den Sicherheitsbereich. Die Gewichtung machte auch deshalb Sinn, weil die Wirtschaftsspionage überwiegend sofort verwertbare Ergebnisse bringen konnte.
Der ganze Rest war praktisch sinnlos?
Vermutlich nicht, doch fest steht: Mit Blick auf den politischen Auftrag, einen Überraschungsangriff der Nato frühzeitig zu erkennen, verpulverte die HVA erheblich Ressourcen. Da mußte jemand vor dem Kanzlerbunker aufpassen, ob der Kanzler vorfährt oder ob größere Museen geschlossen wurden, was alles als mögliche Indikatoren für einen bevorstehenden Kriegsfall galt.
Glauben Sie, daß ehemalige IM im Westen noch für andere Geheimdienste aktiv sein könnten?
Sofern sie enttarnt sind, halte ich das für eher unwahrscheinlich. Allerdings war von Einzelfällen zu lesen, daß der KGB-Nachfolger ehemalige HVA-IM reaktivieren wollte. Interview: Gunnar Leue
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