Superpapa im Kriech(s)zustand

■ Das Schnürschuh-Theater inszenierte „Das Tagebuch der Anne Frank“ wie einen Ausflug ins gute alte Theatermuseum

Liebe Zeitungsseite. MeinE LeserIn hat Dich mir gerade geschenkt, und dafür bin ich sehr dankbar. Am besten ist es wohl, wenn ich mich Dir erstmal vorstelle. Ich bin Theaterrezensent und habe gerade ein Stück von, mit und über gute Menschen im Bremer Schnürschuh-Theater gesehen. Es heißt „Das Tagebuch der Anne Frank“. Frances Goodrich und Albert Hackett haben diese Tagebuch-Dramatisierung 1955 geschrieben und der Nachwelt gegenüber verfügt, fast alles so zu lassen, wie sie es dramatisiert haben. Es erzählt die Geschichte eines jüdischen Mädchens, das sich mit ihrer Familie und mit Freunden ihrer Familie von 1942 bis 1944 in einem Amsterdamer Hinterhaus vor den bösen Nazis verstecken mußte. Das war eine sehr schlimme Zeit damals. Sehr schlimm!

Denn in diesem Hinterhaus muß es eng gewesen sein. Sehr eng sogar, schenkt man dem Bühnenbild Glauben, das die Leute vom Schnürschuh-Theater für eine der aufwendigsten Produktionen ihrer langen Geschichte aufgebaut haben. Überall stehen Kisten, Campingbetten, Sessel, Borde und Kommoden herum, und fast alles sieht nach Amsterdam-Hinterhaus-1942-44 aus – bis auf ein Regal, das wohl doch von Ikea ist. Glaubt man dem Bühnenbild weiter, hatten die Franks nicht mal eine Wohnungstür. Sie mußten hinter einem Aktenregal durch ein Loch in der Wand kriechen. Und auch das Publikum muß da durchkriechen. Das weckt Betroffenheit. Es sind sozusagen Kriech(s)zustände.

So bin ich schon sehr traurig, als Superpapa Frank, genannt Pim (Ulrich Thon), auf die Bühne kommt. Er ist gerade aus Auschwitz nach Amsterdam zurückgekehrt. Er sieht aber aus wie ein Buchhalter nach Bekanntgabe seiner Versetzung in den Vorruhestand. Aber auch das ist traurig. Und dann findet er das Tagebuch seiner Tochter Anne (Hanna Piotter) wieder und wird noch trauriger, und das Rad der Gechichte dreht sich zurück. Um drei Jahre, um genau zu sein.

Schon kommen sie in dieser Inszenierung Kurt Wobbes alle ins Zimmer und schütteln sich die Hände: Die gute Mutter Frank (Christiane Rintelen) und die strahlende Margot Frank (Claudia Böttcher), die lüsterne Frau, der gierige Herr und der grobschlächtig-unterschätzte Peter van Daan (Claudia Strauß, Uwe Seidel, Sebastian Eggers) und später der seltsame Herr Dussel (sprich: Düssel; Reinhard Lippelt) sowie noch die guten Helfer Miep Gies (Ute Rettmann) und Herr Kraler (Kurt Wobbe). Und wenn sie sich nicht die Hände schütteln, dann sitzen sie auf ihren Betten, Kisten, Hockern und Liegen oder stehen herum. Es ist eben sehr eng. Eigentlich.

Und so gibt es natürlich Konflikte. Herr Dussel zum Beispiel mag keine Katzen, aber Peter hat eine. Anne redet wie ein Wasserfall, und die anderen können es nicht mehr hören. Herr van Daan klaut heimlich Essen. Das ist nicht fair, weil Frau Frank auch die kleinste Ration noch in acht oder sogar zweimal acht gleich große Stücke teilen kann. Aber auf jede Verfehlung folgt eine rührende Entschuldigung. Und deshalb hat man sie dann alle doch wieder ganz doll lieb.

Wenn da nur nicht so böse Menschen mit schallgedämpften Lastwagen und Maschinenpistolen draußen herumfahren und herumschießen würden. Und wenn da nicht diese Kleinigkeiten wären: Das dauernde Herumstehen, die S-Fehler, das Bremisch-Breite in der Sprache, das Versöhnungspathos, die Invasion der Miss Ellys, der Musical-Charakter, das Borgfelder-Speeldeel-Niveau, das Theatermuseum und, und ... und Hanna Piotter, die ihre Anne ehrlich ganz natürlich spielt, kann das nicht alles wettmachen.

Deshalb, liebe Zeitungsseite, muß ich Dir ein Geständnis machen. Manchmal wünschte ich mir, die bösen Menschen würden endlich laut an der Tür klopfen, und das Ganze hätte ein Ende. Wenn die Leute vom Schnürschuh-Theater nicht so lieb wären wie sie sind, würde ich diesen Wunsch nicht nur Dir anvertrauen. Ich weiß, ich bin manchmal so schrecklich gemein und taktlos. Dafür möchte ich mich bei Dir, liebe Zeitungsseite, entschuldigen. Und ich verspreche, beim nächsten Chanukka-Fest eine Kerze deswegen anzuzünden. Ganz bestimmt lasse ich sie auch bis zum Ende abbrennen. Ehrenwort. Christoph Köster

Aufführungen: 9., 10., 22. bis 24. Oktober um 20 Uhr