: Der gute Mensch von Hollywood
Steven Spielberg, Regisseur von „Der Soldat James Ryan“ und „Schindlers Liste“, hat Erfolg. Kritikern ist er daher suspekt. Eine Erwiderung ■ von Mariam Lau
Vor einem Vierteljahrhundert kam Steven Spielberg das erste Mal nach Europa. Er wollte seinen Film „Duell“ – die finstere Verfolgungsjagd eines kleinen Geschäftsmannes durch einen rasenden Lkw – in Cannes vorstellen. Zu seiner Überraschung traf er dort auf eine gut vorbereitete Clique von Kritikern. In Paris waren sie der Auffassung, „Duell“ sei eine Kritik an der zunehmenden Beherrschung unseres Lebens durch Maschinen; in Rom sollte er zugeben, daß es sich um eine Parabel auf die Beziehungen zwischen der Arbeiterklasse und der Bourgeoisie handele.
Spielberg, eingeschüchtert und baß erstaunt, sah alles ein und nickte vorsichtig. Erst als ihn jemand mit dem Stichwort „Autorenkino“ konfrontierte, fühlte er sich zum Widerspruch herausgefordert: „Regisseure, die an die auteur-Theorie glauben, werden noch in jungen Jahren einen Herzinfarkt erleiden. Du kannst nicht alles alleine machen.“
Zwanzig Filme, zwei Ehen und viele, viele Produktionen später weiß auch Spielberg selbst, daß er genau das ist: ein Autor. Ganz wie seine beiden Säulenheiligen, seine Idole Frank Capra und John Ford. Seine Loyalitäten, seine Empfindlichkeiten, seine Alpträume und seine kommerziellen Strategien sind es, die den kleinsten gemeinsamen Nenner so disparater Werke wie „Poltergeist“ (1982) und „Schindlers Liste“ (1993) bilden.
Fast scheint es, als lege er es auf ein enzyklopädisches Werk an, in dem alle Kinogenres, vom Horror- bis zum „Frauenfilm“, einmal auftauchen, eines, in dem sich eine große amerikanische Erzählung entspinnt – mit Vorstadtgärten, freundlichen Besuchern aus dem All, Kriegssirenen, Sklavenketten, verwunschenen Ruinen und vergrabenen Schätzen, Nazis und amerikanischen Soldaten, über denen die Sternschnuppen ziehen.
Es ist kein Zufall, daß zu den wenigen philantropischen Aktionen, mit denen er je in die Kunstwelt vorgestoßen ist, der Bau eines Museums für die Gemälde Norman Rockwells im neuenglischen Stockbridge gehörte. Rockwell malte Pfadfinder, die in die Rocky Mountains hinausspähen, Jungs mit Grashalmen im Mund unter einem Baum, Familien erschöpft vom Sonntagsausflug, Eltern, die ihre Zwillinge in den Schlaf singen, giggelnde verliebte Paare und so weiter. Eine Art amerikanischer Spitzweg des 20. Jahrhunderts, dessen Motive viele Leute noch in jedem Spielbergfilm wiedergefunden haben wollen.
Vor allem das Motiv des einzelnen, unscheinbaren Joe, der unauffälligen Mary, die, vor einen Sonnenuntergang postiert, plötzlich einen warmen, heiligen Glanz annehmen, taucht in „E.T. Der Außerirdische“ (1982), aber auch in seinem neuesten Film „Der Soldat James Ryan“ immer wieder auf.
Es gibt wohl niemanden, den Spielberg im Laufe der Jahre nicht mit irgend etwas verärgert hat. Die Kritiker, die ihn zu Zeiten des karg inszenierten, puristischen Films „Duell“ noch für einen Bannerträger der Filmavantgarde im neuen Hollywood der siebziger Jahre hielten, waren schon nach „Der weiße Hai“ (1975), spätestens aber mit der „Indiana Jones“-Abenteuertrilogie (1981-1989) der Überzeugung, Spielberg sei halt doch nur einer der großen weißen Jungs, die eben ihren Spaß haben wollten.
Vom „Terror des Visuellen“ war sogar die Rede, den er mit seinem Hang zu Spezialeffekten ausübe, aber auch von moralischer Zweifelhaftigkeit. So schrieb der New Yorker Filmkritiker Jim Hoberman anläßlich des letzten Teils der Trilogie: „,Indiana Jones' ist, selbst für Hollywoodmaßstäbe, unglaublich sexistisch und rassistisch. Da ist so eine Art bewußter Ignoranz, so als entbinde die schiere Größe ihres Erfolgs Leute wie Spielberg und Lucas von allen moralischen Rücksichten. Auch wenn er so tut, als wolle er bloß unschuldige Späße machen und gute Unterhaltung bieten – ,Indiana Jones' ist ein freudloser Film; gemein, aufgemotzt und ohne jede Eleganz.“
Aus dieser Perspektive erscheinen Spielberg und die anderen Protagonisten des Neuen Hollywood – vor allem George Lucas, damals zählten aber auch noch Francis Ford Coppola, Brian de Palma oder John Milius dazu – schon durch ihren Erfolg kompromittiert. 22 Millionen Dollar Reingewinn schon am ersten Wochenende von „Der weiße Hai“, dem erst dritten Spielfilm des 28jährigen Spielberg – da konnte irgendwas nicht stimmen. Ein solcher Erfolg konnte nur durch Verrat erkauft worden sein.
Dabei hatte Spielberg ganz im Sinne seiner Kritiker wirklich die Ochsentour genommen. Während die meisten anderen „Movie brats“ (etwa: „Kinoblagen“, eine Umschreibung für dürftige Allgemein-, aber umfassende Filmbildung) des Neuen Hollywood in der Regel von den kalifornischen Filmschulen kamen, die in den sechziger Jahren neu eröffneten, hatte Spielberg nichts als umfängliche Fernseherfahrung und ein bißchen Arbeit mit der Super-8-Kamera aufzubieten, die sein Vater ihm geschenkt hatte, damit er die Ankünfte und Abfahrten bei Familienausflügen dokumentieren konnte. Bei drei Jahren College hatte er es bewenden lassen. Und auf die hätte er auch noch verzichtet, wenn da nicht der drohende Wehrdienst gewesen wäre.
Natürlich wollte niemand in Hollywood seine Arbeiten ansehen. Während Francis Coppola (“Apocalypse Now“) sich seinen Unterhalt mit Assistenzen bei Roger Cormans Softpornos verdiente, nahm Spielberg sich – nachdem er das Studio eine Weile von innen ausgekundschaftet und sich freundlich bei den Damen von der Telefonzentrale vorgestellt hatte – ein paar Plastikbuchstaben aus der Drogerie mit, klebte sie an die Tür eines leerstehenden Arbeitszimmers und hockte sich aufgeregt hinter den Schreibtisch.
Nichts passierte. Wochenlang entdeckte ihn niemand, aber das Telefon klingelte halt auch nicht. Er stellte weiterhin allen interessierte Fragen, ließ sich von Hitchcock aus dem Aufnahmeraum zu „Der zerrissene Vorhang“ jagen und beobachtete John Cassavetes (“Gloria“) so lange, bis der ihn schließlich fragte, ob er Regisseur werden wolle. Und wenn ja, ob er ihm dann mal sagen könne, was er in der Szene gerade falsch gemacht habe? Der picklige, schlaksige Spielberg traute sich vor dem großen Team nicht zu äußern, schlitterte aber trotzdem in einige Fernsehproduktionen hinein, die sein Gönner Sidney Sheinberg ihm vermittelt hatte. Es waren seine Hundejahre.
Spielberg war sich nicht darüber im klaren, daß er gegenüber Coppola, Milius und Lucas einen Startvorteil gehabt hätte. Als Kind einer vielköpfigen jüdischen Familie von der Ostküste war er genau in dem ethnischen und ethischen Milieu aufgewachsen, von dem das Hollywood jener Jahre geprägt war. Es kam nicht selten vor, daß Leitungsposten innerhalb von Familien vererbt wurden.
Aber es war nicht nur seine Unkenntnis, die ihn vor einem Coming-out als Regisseur zurückschrecken ließ, sondern auch eine lang anhaltende Entfremdung vom Judentum. Zwar berichtet Spielberg, „meine Eltern glaubten an das Judentum und an Roosevelt“, das klingt aber nicht nach sehr eifriger Glaubenspraxis. Er habe noch eine Erinnerung daran, wie er mit dem Kinderwagen in eine dunkle Synagoge in Cincinatti gefahren worden sei, und wie sich bärtige Männer, hinter denen helles, samtigrotes Licht aufschien, von allen Seiten zu ihm herabbeugten.
An seine Bar-Mizwa kann er sich nicht mehr so recht erinnern, wohl aber daran, Zahlenspiele mit jemand gespielt zu haben, der ihm eine Neun auf seinem Arm voller Nummern zeigte und mit ihm darüber lachte, daß sie von zwei Seiten lesbar war. Als dann noch – nach einem Umzug der Familie nach Arizona – die Erfahrung wütender antisemitischer Ressentiments hinzukam und er von Schulkameraden zusammengeschlagen und mit Pennys beworfen wurde, war das Jüdischsein für Spielberg bis auf weiteres mit Finsternis, Bedrohung und „Schwächlingsein“ assoziiert.
Erst Jahre nach der „Roots“-Bewegung des jüdisch-amerikanischen Mainstream, Jahrzehnte nach Anne Frank, dem Eichmann-Prozeß, lange Zeit nach den Auftritten der Skandalnudel Lenny Bruce und einem gewachsenen öffentlichen Selbstbewußtsein fand auch Spielberg zu seinen familiären Wurzeln. Heute läßt er niemanden mehr im Zweifel darüber.
Einer der beliebtesten Vergleiche, die immer wieder an Spielberg herangetragen werden, ist der mit Peter Pan, dem Jungen, der nicht groß werden will. Der nimmt bekanntlich zwei Kinder mit sich ins „Niemals“-Land, zu dem Erwachsene keinen Zutritt haben und in dem es abenteuerlich zugeht. Spielberg hatte an dem Stoff auch lange genug Interesse gezeigt; eine Zeit lang war von einem Musical mit Michael Jackson in der Hauptrolle die Rede. Doch das Projekt starb, als Jackson in Verdacht geriet, Kinder mißbraucht zu haben. Aus der Idee wurde schließlich der Film „Hook“ (1991) mit Julia Roberts und Robin Williams, ein Totalflop.
Trotzdem ist an der Peter-Pan-Theorie etwas dran: Als Kind hat sich Spielberg vor dem häuslichen Chaos und den Unfreundlichkeiten zwischen Vater und Mutter, deren täglichen Hausmusikexerzitien und seinen drei Schwestern in „Bambi“ und „Fantasia“ zurückgezogen. Noch heute ist das Vorstadtleben für ihn – ganz anders als für David Lynch (“Blue Velvet“) zum Beispiel – ein echtes Utopia. Aber mit Niedlichkeit und Unschuld soll man das nicht verwechseln.
Spielbergs Disneyland war voller Schrecken. Von „Schneewittchen und die sieben Zwerge“ erinnert er hauptsächlich den Zerfall des Skeletts der bösen Hexe zu Staub, aus „Bambi“, daß die Familie in den Flammen umkommt, und aus „Fantasia“ die Nacht auf dem nackten Berg. Die Clownspuppe seiner Schwester hatte für ihn nur ein mörderisches Zähneblecken übrig, der Baum im Hof wollte nachts seine giftigen Tentakeln nach ihm ausstrecken, und aus dem Riß in der Wand lachten kleine haarige Kerle. Wer „Poltergeist“ gesehen hat, weiß Bescheid. Spielbergs comicstriphafte Imagination war es nicht zuletzt, die jahrelang verhindert hat, daß das alte Hollywood ihn an die Brust nahm und ihm endlich den Oscar gab.
Die kindliche Wut, die aus seinen Jungenphantasien spricht, hat in Spielbergs Version von seiner Kindheit keinen Platz. In dieser war er ein typischer „Nerd“, der picklige, ungeliebte, ungeschlachte Freak, der nicht richtig lesen konnte und statt dessen aus seiner Ausgabe von „Der scharlachrote Buchstabe“ ein Daumenkino für seine Privatunterhaltung machte. Er war nur das Objekt von Aggression, niemals ging sie von ihm aus. Aber was sonst treibt jemanden dazu, in seinen Tagträumen ganze Familien, die zum Baden nach Marthas Vineyard fahren, von einem riesigen weißen Hai zerfleischen zu lassen?
Die Behauptung, Steven Spielberg leide an aggressiven Hemmungen, würde in Hollywood wahrscheinlich nicht einmal mehr zum Lachen reizen. Seine Geschäftspraktiken gelten als tough. Genauso oft, wie er mit Peter Pan verglichen wurde, hat man ihn auch einen Tycoon genannt, einen Filmmogul der alten Schule. Das bleibt nicht ohne Wirkung auf das private Leben: Alles wird zur Verhandlungssache. Als sie gerade frisch verliebt waren, hat seine jetzige – zweite – Ehefrau, die Schauspielerin Kate Capshaw, mit ihm für den Scheidungsfall eine Million Dollar jährlich vereinbart, nicht zuletzt, weil ihre Vorgängerin, die Schauspielerin Amy Irving, so generös abgefunden worden war.
Die warnenden Beispiele der Bankrotteure Orson Welles und Francis Ford Coppola vor Augen, war Spielberg von Anfang an darauf bedacht, weder den Studios noch seinen Teams irgend etwas zu schenken. Als Welles einmal händeringend jemanden suchte, der ihm einen winzigen Anschub bei einer jämmerlichen Fernsehproduktion gibt, half ihm nur Coppola; von Spielberg, der ihn stets sein großes Vorbild nennt, war nichts zu wollen.
Vor den ganz großen Schauspielern ist er nicht zuletzt deshalb immer zurückgeschreckt, weil er lieber nach welchen sucht, die er nach Gewerkschaftstarif bezahlen kann. (Er hatte auch lange Angst vor ihnen. Sehr lustig lesen sich Berichte von seiner Begegnung mit der gealterten und nicht unschwierigen Joan Crawford, die in dem Fernsehfilm „Eyes“ unter seiner Regie spielte. Um sie zu besänftigen, hat er ihr jeden Morgen eine Rose in einer Pepsi- Cola-Flasche in die Garderobe gestellt.)
Das große Geld, das er auf diese Weise mit seinen Filmen verdiente, war wohl ein weiterer Grund dafür, daß die für die Oscars zuständige „Academy of Motion Picture Arts and Sciences“ Spielberg so lange keine ihrer Trophäen geben wollte. Bei „Der weiße Hai“ hat Spielberg sich dazu auch ziemlich bitter geäußert: „Ich kann nicht glauben, daß sie sogar Fellini nominieren und nicht mich! Dabei ist ,Der weiße Hai' ein Autorenfilm! Dieselben Leute, die den Film zuerst stürmisch gefeiert haben, bekamen plötzlich Zweifel an seinem künstlerischen Wert, als er so viel Geld einspielte.“
Mit „Schindlers Liste“ (1993) änderte sich Spielbergs Ansehen grundlegend. Seine linken Kritiker schäumten, weil er sich aus Fantasialand heraus auf ein Gebiet vorgewagt hatte, für das sie die absolute Deutungshoheit beanspruchten. Lange bevor der Film überhaupt fertiggestellt war, konnte man von der „Spielbergisierung des Holocaust“ oder dem „Holocaust-Themenpark“ lesen. Das ultimative Sakrileg war am Ende, daß Spielberg – nicht zuletzt wohl auch die eigene Rehabilitation im Blick – mit dem Emaillefabrikanten Oskar Schindler einen Kapitalisten und einen Hedonisten zugleich zum Judenretter gemacht hatte. Nicht obwohl, sondern gerade weil Schindler seidene Hemden, schöne Frauen und einen guten Hennessy liebte, konnte er die sinnlose Vernichtung irgendwann nicht mehr ertragen, die ihm zunächst nur als geschäftsschädigend erschienen war.
Daß Spielberg überhaupt Errettung zeigte, wo doch eigentlich nur Untergang war, konnte in den Augen der Empörten nur Teil einer gefährlichen Vernebelungsstrategie sein. Selbst angesehene Akademiker wie der Historiker Omer Bartov schrieben: „Spielberg macht seine Zuschauer zu Komplizen der SS.“ Claude Lanzmann dekretierte in Le Monde, Spielberg hätte entweder „Shoah“, also Lanzmanns Film machen müssen, oder schweigen.
Ansonsten wurde weithin anerkannt, daß „Schindlers Liste“ einer der komplexesten Filme zum Thema war. Der eine kitschige Ausreißer zum Ende hin – als Schindler nach der Kapitulation der Deutschen weinend vor seinem Fluchtauto zusammenbricht und schluchzt, er hätte doch noch viel mehr Menschen retten können – ist leicht mit der Identifikation des „geläuterten Kapitalisten“ Spielberg mit seinem Helden zu erklären.
Man nannte Spielberg anschließend nicht mehr so oft „Tycoon“, dafür verglich man ihn mit den großen amerikanischen Philantropen des 19. und 20. Jahrhunderts – einem Ruf, dem er durch die Gründung des Videoarchivs „Survivors of the Holocaust Visual History Foundation“ oder die generöse Spende für ein D-Day-Museum in der Normandie Vorschub leistet. Und endlich, endlich honorierte Hollywood seine Arbeit: „Schindlers Liste“ erhielt sieben Oscars, darunter die beiden für den besten Film und den besten Regisseur.
Der Mann bleibt dennoch unverstanden, nicht nur als Regisseur. Richtig ist, daß Spielberg seine Projekte wie ein Politiker seine Reden plant: Er fragt sich, was die Leute sehen und hören wollen. Das wird ihm gern als Charakterlosigkeit ausgelegt. Doch dieser Haltung liegt nichts Kalkulierendes zugrunde. Sie entspricht vielmehr seinem an Frank Capra orientierten Verständnis vom Verhältnis zwischen Demokratie und Entertainment.
„Schindlers Liste“ war auch ein Resultat der Gewißheit, daß die amerikanischen Juden inzwischen in der Gesellschaft so sehr angekommen, so sehr selbstverständlicher Teil von ihr waren, daß nicht nur ihre wirtschaftlichen und kulturellen Beiträge anerkannt, sondern auch ihre leidvollen Erinnerungen in den Mainstream aufgenommen worden waren – wie auch der Bau der großen Holocaust-Museen in Washington und Los Angeles bestätigte.
„Der Soldat James Ryan“, Spielbergs neuester Film, setzt diesen Weg fort. Er legt genau den aufgeklärten Patriotismus an den Tag, den der jüdische Philosoph Richard Rorty kürzlich in seinem Buch „Achieving Our Country“ von der Linken forderte, für die seit dem Sündenfall Vietnam Amerika erledigt ist. Die Befreiung Europas vom Nationalsozialismus gehört für Rorty – und eben auch für Spielberg – zu den Highlights einer großen Erzählung.
Die zarte, fast verblassende Flagge am Anfang und Ende des Films ist eben nicht – wie von manchen beschrieben – ein militaristisches Geprotze, das von Vietnam nichts wissen will, sondern eine Visualisierung der Gefahr, daß der damalige Einsatz und seine Protagonisten in Vergessenheit zu geraten drohen.
Die meisten Kritiken, die bisher zu dem Film erschienen sind, sehen ihn in zwei disparate, qualitativ kaum zu versöhnende Teile zerfallen: die avantgardistischen ersten zwanzig Minuten im Kugelhagel an der Omaha Beach, und den Rest als eine Konzession an die Hollywoodkonvention für Kriegsfilme.
Diese Art von Einwand zerschellt an jedem gelungenen Kriegsfilm, den man sich vor Augen führt: Ob der Film „Die besten Jahre unseres Lebens“ (1946) von William Wyler unkonventionell ist oder nicht, spielt keine Rolle, weil seine Protagonisten und deren Situationen so überzeugend sind. Ist Oliver Stones „Platoon“ (1986) ein klassischer Hollywoodfilm? Und wenn schon, wichtig ist, daß die Entwicklung von Charlie Sheens Collegestudenten im Chaos des Krieges und angesichts einer My-Lai-ähnlichen Situation plausibel und anrührend ist.
In Tom Hanks hat Spielberg seinen Spencer Tracy gefunden, den Schauspieler, den er im klassischen Hollywood am meisten verehrt. Die Mission des Captain Miller, mit seiner achtköpfigen Truppe den Soldaten James Ryan zu finden und nach Hause zu schicken, weil dessen Mutter bereits drei Söhne im Krieg gegen die Deutschen verloren hat, erfüllt er ohne Enthusiasmus, aber auch nicht mit schlichtem Kadavergehorsam. Es gibt keinen Bruch zwischen dem, was die da oben wollen und dem, was er will, denn hier geht es um höhere Belange.
Zu glatt ist diese hegelianische Perspektive von vielen Kritikern empfunden worden. Von Spielbergs „Lovely War“ sprach sogar die New York Review of Books: „Der Zweite Weltkrieg war ein Kampf gegen das schlechthin Böse, und es gibt keinen Grund, dies in Grautönen darzustellen. Aber wir beurteilen nicht den Zweiten Weltkrieg, sondern einen Film.“ Und diesem Film fehle es eben an Komplexität, an Widersprüchen. Wenn wenigstens der Soldat Ryan, als die Truppe ihn endlich findet, sich als Feigling oder sonstwie unwürdig erweisen könnte – statt dessen lehnt er die Verschonung ab und will weiter „bei den letzten Brüdern bleiben, die ich habe, sagen Sie das meiner Mutter, das wird sie verstehen.“
In der Tat ist dieser Film eher als Memorial gedacht, eher eine Geste der Würdigung der Vätergeneration (auch Spielbergs Vater war Soldat), denn als Dokument. Aber in ihm steckt der Gedanke, mit dem er schon „Schindlers Liste“ vorantrieb: Wer ein Menschenleben rettet – und das in einer Situation des totalen Chaos, das jede moralische Entgleisung legitimieren würde –, rettet die ganze Welt.
Es ist der Gedanke, mit dem sich auch Steven Spielberg selbst aus dem Sumpf gezogen hat, in dem er seine ziemlich trostlose Zeit als Heranwachsender verbrachte. Die Schrecken, mit denen er jetzt lebt, teilt er mit anderen; sie kommen nicht mehr nur aus seiner privaten Wandritze. Gegen manche dieser Schrecken läßt sich sogar etwas ausrichten. In dieser Entwicklung liegt die Dignität des Spielbergschen Ouvres.
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