: Eine Fleißarbeit mit begrenztem Gebrauchswert
■ Martin Winter hat in seiner Studie immenses Material aufgehäuft, kommt aber mit dem Problem nicht zu Potte
„Was kann die Polizei? Was darf die Polizei? Was soll die Polizei? Und: Was tut die Polizei?“. Diese Fragen, denen Martin Winter in seiner soziologischen Dissertation „Politikum Polizei“ nachgeht, sind nicht neu – und je nach politischem Standort werden sie stets unterschiedlich beantwortet. Auch wird man sie sich im jeweils aktuellen zeitgeschichtlichen Rahmen neu stellen und – unter Umständen – verschieden verorten müssen. Bei Winter ist dabei ein dickleibiger Band mit zahllosen Fußnoten in der Reihe „Politische Soziologie“ des LIT-Verlages in Münster herausgekommen.
Im Mittelpunkt der Untersuchung steht dabei das protest policing. Mit diesem Begriff, für den es in der äußerst dürren Landschaft der deutschen Polizeiforschung keinen eigenen Ausdruck gibt, ist die „Konfliktbeziehung von Polizei und Protest“ gemeint. Nach Winter „die polizeiliche ,Behandlung‘ und soziale Kontrolle von Protestierenden“. In seinem Vorwort versucht er demzufolge zunächst folgerichtig, das Verhältnis von Polizei und Protestierenden zu klären und definiert sechs mögliche Handlungsschemata für die Polizei, als da sind: tolerant versus repressiv; diffus versus selektiv; hart versus sanft; reaktiv versus proaktiv; rechtswidrig versus rechtmäßig und kooperativ versus konfrontativ.
Die Charakterisierung ist fraglos richtig, dennoch zeigt sich bereits hier auf den allerersten Seiten, daß der Autor mit seiner betont wissenschaftlichen Herangehensweise und Wortwahl gelegentlich in die Gefahr gerät, ungewollt komisch zu wirken. Die Universitätsbrille fest auf die Nase gedrückt (und, so scheint es, mit beiden Händen fest umklammert) gerät ihm der Inhalt seiner Aussagen immer wieder aus dem Blick. Ein Beispiel: „Polizeiliche Maßnahmen können sowohl beabsichtigte als auch unbeabsichtigte Folgen für die Protestierenden haben. Bereits die polizeiliche Behandlung an sich kann schon politisch diskreditierend wirken und das öffentliche Image der Protestierenden verschlechtern – oder auch verbessern“. Soweit d'accord und Beispiele ließen sich leicht anführen. Etwa der unterschiedliche polizeiliche Umgang mit Castor-Transporten und Arbeitskämpfen. Unter der Fußnote, die Winter hinter das Wörtchen „verbessern“ gesetzt hat, findet sich als Deutung jedoch: „Beispielsweise können Protestierende als Opfer polizeilicher Gewalt (eventuell) mit öffentlicher Sympathie rechnen“. Auweia! schallt es da vom Fuße des Elfenbeinturms.
So recht erschließt sich dem Leser im folgenden auch nicht, warum zur Beantwortung der Eingangsfragen seitenlange Darstellungen über polizeiliche Laufbahnen, Stellenkegel, unterschiedliche Organisationsstrukturen auf Länderebene, polizeiliche Fachzeitschriften und so weiter notwendig sind. Leicht kommt man dabei auf gut 200 Seiten. Die ausschweifende Darstellung kennzeichnet auch die weiteren 200 Seiten, selbst wenn Winter sich den zu analysierenden Grundvoraussetzungen nun beständig nähert.
Irgendwann aber ist die Geduld eines jeden Verlagslektors zu Ende, und ein Autor muß zu seinem Ende finden. Jetzt allerdings reibt sich der geduldigste Leser verwundert die Augen. Die entscheidende Frage, „ob die Polizei Instrument der Politik oder eigenmächtiger Akteur ist“, wird so beantwortet: „Verfügt die Polizei über weitreichende Handlungsspielräume, dann kann sie diese eigenständig ausfüllen und damit (relativ) autonom agieren. Je mehr Handlungsspielraum sie besitzt, desto größer ist die Chance, daß die Polizei nicht ,Dienerin‘, sondern ,Herrscherin‘ wird. [...] Wenn Spielräume vorhanden sind, dann kann es Unterschiede geben: zum einen Differenzen zwischen den Einsatzphilosophien der Länderpolizeien und zum anderen Unterschiede in den polizeilichen Einsatzstrategien und -taktiken gegenüber den verschiedenen Typen des polizeilichen Gegenübers“. (...)
Wie autonom ist nun die Polizei? „Die bürokratische und legalistische Tradition garantiert der Polizei in Deutschland eine gewisse Unabhängigkeit von der Politik. Sie ist aber nur so lange von Vorgaben unabhängig, so lange die Politik ihr diesen Freiraum gewährt.“ Donnerwetter, wer hätte das gedacht? Mit der wissenschaftlichen Elle vermessen, mag das Buch einen gewissen Gebrauchswert haben, denn gänzlich frei von analytischen Werten ist es nicht. Normalleser, die hoffen, hier eine Antwort auf die Frage nach dem Abhängigkeitsverhältnis von Politik und Polizei zu finden, müsen allerdimngs eine dünne Suppe löffeln. Otto Diederich
Martin Winter: „Politikum Polizei. Macht und Funktion der Polizei in der Bundesrepublik Deutschland“. (Reihe Politische Soziologie Bd. 10); LIT-Verlag Münster 1998, 553 S., 49,80 DM
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen