: Vom Umweltgift zum Lebensretter
In Autoabgasen sind Stickoxide schädlich für Mensch und Umwelt. Als körpereigener Botenstoff hat das Gift dagegen eine zentrale Rolle bei der Regulation des Blutkreislaufes. Für die Aufklärung der biologischen Funktion des lange Zeit verkannten Moleküls erhalten drei US-Forscher den diesjährigen Medizinnobelpreis ■ Von Wolfgang Löhr
Daß einem bisher nur als Umweltgift bekannten Gas einmal eine lebensnotwendige Funktion bei der Regulation des Körpers zugeschrieben wird, konnte sich vor drei Jahrzehnten noch kaum jemand vorstellen. Es war daher eine Sensation, als die beiden Pharmakologen Robert F. Furchgott, von der State University im New Yorker Stadtteil Brooklyn, und Louis J. Ignarro, von der University of California in Los Angeles, 1986 auf einem Kongreß zum ersten Mal ihre Hypothese vorstellten, daß das Giftgas Stickstoffoxid als Botenstoff im Körper die Herz-Kreislauf-Funktionen aufrechterhält. Einige Jahre zuvor hatte schon der Arzt und Pharmaforscher Ferid Murad von der University of Texas in Houston nachgewiesen, daß die Wirkung des bei Herzanfällen eingesetzten Nitroglycerin auf einer Freigabe von Stickstoffoxid beruht. Diese Ergebnisse lösten Mitte der achtziger Jahre einen weltweiten Forschungsboom über Stickstoffoxid als biologischer Signalgeber aus. Mehrere heute verfügbare Medikamente, unter anderem das Potenzmittel Viagra, beruhen auf diesen Erkenntnissen. Für ihre Forschungen erhalten die drei Wissenschaftler dieses Jahr den mit rund 1,5 Millionen Mark dotierten Nobelpreis für Medizin.
Seit mehr als hundert Jahren ist die heilsame Wirkung von Nitroglycerin bei Angina pectoris, der Herzkranzgefäßverengung, bekannt. Noch heute gehört das Mittel zu den unverzichtbaren Medikamenten bei der Herzerkrankung. Doch erst durch die Arbeiten der diesjährigen Nobelpreisträger konnte aufgedeckt werden, warum das Mittel gefäßerweiternd wirkt.
Der mittlerweile 82jährige Robert Furchgott entdeckte 1980, daß die innere Zellschicht von Blutgefäßen, das sogenannte Endothel, einen – seinerzeit noch unbekannten Stoff – abgibt, der die Blutadern schlagartig erweitern kann. Furchgott bezeichnete diese Substanz als EDRF, den „Endspannungsfaktor des Endothels“.
Erst sechs Jahre später fanden Furchgott und – völlig unabhängig von ihm – der Pharmakologe Louis Ignarro heraus, daß es sich dabei höchstwahrscheinlich um das einfach aufgebaute, lediglich aus einem Stickstoff- und Sauerstoffatom bestehende Molekül Stickstoffmonoxid (NO), auch kurz Stickstoffoxid genannt, handeln muß. Der Botenstoff NO, der von einem intakten Endothel freigesetzt wird, stimuliert die Bildung von zyklischem Guanosinmonophosphat (cGMP), einer weiteren Signalsubstanz. cGMP bewirkt eine Entspannung der Gefäßmuskulator, die Blutadern weiten sich. Ohne NO würde die Gefäßmuskulatur die Adern zusammenpressen, so daß es zu Blutstauungen käme.
Die Identifizierung des Entspannungsfaktors EDRF dauerte solange, weil der Signalstoff NO im Unterschied zu anderen Stickoxiden nur sehr kurzlebig ist. Die hochreaktive Substanz erreicht ihr Ziel in wenigen Sekunden und wird dann sogleich abgebaut und ist nicht mehr nachweisbar.
Erst durch die Arbeiten von Ferid Murad, der am Wirkmechanismus von Nitroglycerin forschte, erhielt die Suche nach dem unbekannten Entspannungsfaktor neuen Auftrieb. Murad wies nach, daß das Medikament Nitroglycerin nicht direkt auf die Gefäßmuskulatur einwirkt, sondern daß das daraus freigesetzte NO die Bildung von cGMP initiiert. Furchgott und Ignarro folgerten daraus, daß ihr gesuchter EDRF-Faktor und das NO aus dem Medikament identisch sein müssen. Einen wissenschaftlichen Beweis für ihre Vermutung konnten sie jedoch nicht vorlegen. Das blieb einem vierten NO-Forscher, Salvador Moncada, vorbehalten, der sich jetzt vom Nobelpreiskomitee übergangen fühlt.
Erstmals konnte nachgewiesen werden, daß ein vom Körper gebildetes Gas für die Kommunikation zwischen Zellen verantwortlich ist. Heute wird NO auch zur Behandlung von schweren Atemstörungen bei Neugeborenen und Unfallopfern eingesetzt. Durch die Inhalation mit NO erweitern sich die Blutgefäße der Lunge. Die Sauerstoffversorgung der Organe kann so gesteigert werden. Verfügbar sind inzwischen NO-freisetzende Medikamente, die bei Bluthochdruck, Thrombose und Arterienverkalkung helfen. Geforscht wird derzeit an neuen NO-haltigen Mitteln gegen bakterielle Infektionen und Krebs.
Die Kenntnisse über den Botenstoff NO haben auch zur Entwicklung der Potenzpille Viagra beigetragen. Viagra beeinflußt ähnlich wie NO die Konzentration von cGMP, das dafür sorgt, daß die Gefäße sich öffnen und mehr Blut in die Schwellkörper des Gliedes fließen kann. Das von den Zellen gebildete Gas NO stimuliert die Produktion von cGMP, Viagra degegen hemmt den Abbau. Neuere Studien lassen zudem vermuten, daß NO auch einen Einfluß auf die Lern- und Gedächtnisleistungen des Gehirns hat. Aufgrund seiner Vielseitigkeit wurde NO vor einiger Zeit schon zum „Molekül des Jahres“ ernannt.
Schon mehrmals gab es bei der Vergabe des Nobelpreises Streit und Mißgunst. Im letzten Jahr erhielt der US-Mediziner Stanley Prusiner den Wissenschaftspreis. Die Kritik an dem Preisträger ließ nicht lange auf sich warten. Prusiners Theorie, daß Eiweißmoleküle, sogenannte Prionen, für die Traberkrankheit Scrapie und den Rinderwahnsinn BSE verantwortlich sein sollen, ist unter den Experten stark umstritten. Mit Prusiners Überlegungen, für die der endgültige Beweis noch aussteht, fällt schließlich ein altes Dogma in der Infektionsmedizin. Demnach würden nicht nur Bakterien oder Viren für die Ausbreitung von Infektionskrankheiten verantwortlich sein, sondern auch die zu der Gruppe der Proteine gehörenden Prionen.
Auch diesmal gibt es wieder Kritik an der Entscheidung des Nobelpreiskomitees. Die Entdeckungen der Stickstofforscher werden zwar nicht in Frage gestellt. Nach Meinung von Experten war der Nobelpreis für die Entdeckung des NO sogar schon lange überfällig. Kritisiert wird vielmehr, wen das Preiskomitee für die NO- Entdeckung geehrt hat.
„Die bahnbrechende Arbeit auf diesem Feld wurde von mir und meinem Labor geleistet“, meldete der in Honduras geborene und jetzt am University College in London tätige Professor Salvador Moncada gegenüber der Nachrichtenagentur dpa seinen Anspruch an. Er sei „sehr überrascht und traurig“ darüber, daß der Nobelpreis für Medizin nicht an ihn verliehen wurde. Moncada hatte seinerzeit als Leiter einer Forschergruppe beim Pharmakonzern Wellcome den endgültigen Beweis dafür geliefert, daß ERDF und NO identisch sind. Die Vergabe des Preises an die drei US-Wissenschaftler sei ein „großer Fehler“, sagte Moncada. Die drei US-Forscher hätten schließlich nur die „Hypothese“ aufgestellt. Unterstützung erhielt Moncada von der britischen Fachzeitschrift Nature, die schon kurz nach der Bekanntgabe der Preisträger über Internet darauf hinwies, daß Moncada noch vor Furchgott und Ignarro seine Ergebnisse publizierte.
Hätte das Nobelpreiskomitee jedoch den honduranischen Forscher berücksichtigt, so hätte einer der drei US-Forscher leer ausgehen müssen. Denn der Nobelpreis wird für ein Fachgebiet jedes Jahr nur an maximal drei Wissenschaftler vergeben. Für das Preiskomitee war vermutlich ausschlaggebend, daß Moncada erst durch die Hypothesen der drei US-Forscher auf das Signalmolekül NO aufmerksam gemacht worden ist.
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