Der Angstmanager an Hamburgs Millerntor

Der Fußballzweitligist FC St. Pauli hat mit Alfred Kaune den ersten Mentalcoach im deutschen Profifußball verpflichtet. Der als Betriebsökonom erfahrene Mann soll den Spielern nichts anderes austreiben – als die Furcht vor erfolgreichem Spiel. Eine Nutzenanalyse samt Portrait  ■ von Clemens
Gerlach und Rainer Schäfer

Ein kurzer Blick auf den Absender genügt Christoph Daum – und schon wandert die Post in den Papierkorb. Stapelweise erreichen den Trainer des Fußballbundesligisten Bayer Leverkusen Offerten. Auch andere Vertreter seines Berufsstandes kennen diese Art von Angeboten. Mal bieten Mentalcoaches „neuartige Trainingsprogramme“, mal Wettkampfpsychologen einen Platz auf ihrer Couch. Hochschuldozenten dienen sich als Scouts durch die seelischen Abgründe an, Esoteriker aus dem Schwarzwald senden skurrile Heimvideos ein.

Besonders kregel sind die selbsternannten Helfer seit dem frühen WM-Aus der deutschen Nationalelf. Notstandsgebiet Profifußball? „Das ist doch aberwitzig“, empört sich Daum. „Demnächst steht einer in Oberammergau auf, der einen Höhenrausch hat, und kritisiert unsere Trainingslehre“, sagt der Mann, der für seinen Hang zu Psychotricks bekannt ist und auch mal die Leverkusener Kabinentür mit Tausendmarkscheinen spickt. Daums Urteil: „Wichtigtuer, die eine schnelle Mark machen wollen.“

Für den gebürtigen Ostfriesen Alfred Kaune kommt das Daumsche Diktum nicht überraschend. „Ich wurde schon oft als Psychodoc verspottet, bezweifelt und angeschossen.“ Die Standardabsage lautete: „Hatten wir nie, brauchen wir nicht. Unsere Spieler sind nicht krank.“ Das war anfänglich auch beim Zweitligaverein FC St. Pauli so, der den 36jährigen vor kurzem als „Mentalcoach“ anheuerte.

Der bislang meist als Berater in der Wirtschaft tätige Betriebsökonom – Schwerpunkt „Angstmanagement“ – ist der erste mit festem Engagement im deutschen Fußballgeschäft. Klubpräsident Heinz Weisener und Trainer Gerhard Kleppinger sind von ihrem Mentalmann überzeugt: „Er bewirkt einen Leistungsschub.“ Inzwischen sitzt Kaune auf der Trainerbank, zur Halbzeitpause darf er mit in die Kabine.

Während andere Klubs bislang nur sporadisch Sportpsychologen orderten – branchenintern „Feuerwehreinsätze“ genannt –, arbeitet Kaune kontinuierlich mit den Hamburger Profis. „Ich bin kein Schreibtischtäter wie viele andere. Die Probleme der Spieler können nicht allein mit Gesprächen gelöst werden.“

Der drahtige Kaune ist ständig an Ort und Stelle. „Wo, wenn nicht auf dem Platz, kann ich Erfolgserlebnisse schaffen?“ Am Millerntor, im Stadion des FC St. Pauli, versucht er Offensivmann Cem Karaca die große Flatter vor dem Tor auszutreiben. Dem kleinen Dribbler mißlingt regelmäßig der Abschluß. „Er handelt nicht intuitiv“, sagt Kaune, „sondern denkt zuviel.“

Karacas Probleme sind typisch: Jeder Profi hat schon 100.000mal aufs Tor geschossen und weiß genau, wo der Kasten steht. Aber wenn es zum Finale kommt, sagt Kaune, „verkrampfen sie“. Dann richtet sich der gegnerische Verteidiger noch einmal ruckartig auf, die optimale Schußhaltung verändert sich: Chance vertan.

Kaunes Gegenmaßnahme: Er redet mit den Spielern darüber, was sie empfinden, wenn sie den Ball haben. Oft ist es die Angst zu versagen. Er will „Blockaden, die durch Frusterlebnisse entstanden sind“ lösen. „Automatismen aufbrechen“ nennt es der Mentaltrainer, der in den USA schon Golf-, Football- und Basketballstars coachte. Aber nur Reden bringt es nicht. Nach den Gesprächen kommt der Spielfeldversuch: Der optimale Bewegungsablauf wird einstudiert. Kaune: „Der Torschuß soll zur Selbstverständlichkeit werden.“

Auch St. Paulis Michael Mason arbeitet regelmäßig mit Kaune. Immer wieder muß der 27jährige ehemalige US-Nationalspieler auf Kaune zudribbeln. Und immer wieder winkt der den ausgemusterten Erstligakicker heran. „Er soll nicht lächelnd auf das Tor zustürmen, sondern den Ball unter sich vergraben und ins Tor bringen.“ Zwanghaftes Verhalten zu regulieren ist Kaunes Job – egal ob blockierter Stürmer, labiles Hollywoodsternchen oder gehemmter Manager, der seinen Ferrari nur noch mit achtzig Stundenkilometern über die Autobahn lenken kann.

In seiner Zeit als Kampfsportprofi und Wing-Tsun-Trainer hat Alfred Kaune festgestellt: „Vielen Sportlern fehlt es an der richtigen Bewegungsmotorik.“ Den pragmatisch orientierten St.-Pauli-Profis zumindest imponiert es, daß einer zu wissen meint, was zwischen Scheitel und Sohle passiert.

Michael Mason schwört auf den Seelenhelfer. „Er kann jede Situation genau analysieren, ein Psychologe nicht. Wie will der wissen, was ich an der Außenlinie falsch mache?“ Stephan Hanke, Kaunes erster Klient beim FC St. Pauli und einstiger Problemfall des Klubs, geht noch weiter: „Ich habe meine Leistung um vierzig Prozent verbessert, seit ich mit Alfred arbeite.“

Vorher traute sich Hanke nicht mehr über die Mittellinie. Bei Bayer Leverkusen wurde ihm dies eingeimpft: „Keine Experimente, bleib hinten.“ Kaune erklärt: „Wenn ein Schäferhund darauf abgerichtet wurde, nicht auf eine teure Teppichbrücke zu gehen, macht er es nicht, selbst wenn Einbrecher im Haus sind und es notwendig wäre.“

Kaune schreibt Hanke eine Art Drehbuch, an das sich der Profi halten muß: Stück für Stück wird sein Klient in die Offensive gezwungen. Eine Chance, sich zu drücken, hat er nicht: Nach dem Training wird abgerechnet. Bei Hanke zeigt die Entkonditionierung Wirkung: Die gegnerische Hälfte ist ihm keine Tabuzone mehr. Aus dem vor wenigen Monaten noch von den eigenen Fans ausgebuhten Defensivakteur sprechen Selbstbewußtsein und Dankbarkeit: „Ich habe absolutes Vertrauen zu Alfred. Er ist Vater, Bruder und Trainer in einem.“

Das freut den Therapeuten ohne Gütesiegel, der im Hamburger Geldviertel Harvestehude wohnt. Noch wichtiger ist diesem allerdings der Beweis, daß seine verhaltenstherapeutischen Ansätze Erfolg zeigen – in Fußballzeiten, in denen vom Status quo abweichende Konzepte schnell als Scharlatanerie abgetan werden. „Zu mir kommen Klienten, denen woanders nicht geholfen werden konnte.“ Auch mit Boxweltmeister Dariusz Michalczewski, bislang von einem Hamburger Sportpsychologen betreut, steht Kaune jetzt im Ring.

Für den Vorreiter, der „kein Revoluzzer“ sein will, kommt die mittlerweile rege Nachfrage – „zwei Erstligisten haben Interesse“ – nicht zufällig: „Viele meiner Konkurrenten begnügen sich mit Panflöte und bunten Klecksen.“ Doch Farb- und Musiktherapie reichten auf Dauer nicht aus. Praxis, Körperarbeit, „Veränderung in Teilschritten“ seien entscheidend.

Frei nach Kaunes Leitmotiv (“Die Zukunft nicht mit der Vergangenheit entschuldigen“) wird das Umfeld der Spieler so reguliert, daß diese „keine Ausreden mehr für schlechte Leistungen“ haben. Eheprobleme, Neid auf Kollegen oder unbequeme Bussitze gehen Kaune genauso an wie Versagensängste und Entscheidungsblockaden. Arbeitspraktiken, die für das Gros der Profitrainer undenkbar sind. Allgemeiner Tenor: „Manche Spieler sind schon zu unselbständig, um alleine S-Bahn fahren zu können. Noch mehr Betreuung käme einer Entmündigung gleich.“

Doch selbst Skeptiker wie Eduard Geyer, Coach bei Energie Cottbus, müssen eingestehen: „Fußball ist mittlerweile zu neunzig Prozent Psychologie.“ Der letzte Übungsleiter der DDR-Auswahl muß es wissen: Im abgewickelten Ostblock gehörte psychologische Unterstützung der Athleten durch Fachpersonal zum Fußball wie Hammer und Sichel auf die Trainingsanzüge.

Heute beackern die Fußballehrer das schwierige Feld lieber selber – oder lassen es gleich brachliegen. Henning Allmer, Professor an der Sporthochschule Köln und dort für die psychologische Ausbildung der Trainer verantwortlich, konstatiert ein „gespaltenes Verhältnis und große Berührungsängste“ zwischen Sporttrainern und der ungeliebten Konkurrenz aus dem Mentalsektor.

Dabei könnte eine seriöse Zusammenarbeit wohl im Interesse der Spieler liegen, wie Hertha-BSC-Manager Dieter Hoeneß und SC-Freiburg-Coach Volker Finke übereinstimmen. Finke: „Die Profis werden doch völlig realitätsfern wie Popstars gefeiert. Viele suchen nach Hilfe, um mit dem Druck fertig zu werden.“ Doch moderne Personalführungs- und Konfliktlösungskonzepte aus der freien Wirtschaft, die sich, laut Allmer, „im US-Sport längst durchgesetzt haben“, konnten sich bislang in der Milliardenbranche Profifußball nicht etablieren.

Selbst beim Fußballkonzern Bayern München – Jahresumsatz fast zweihundert Millionen Mark – wird auf altbewährte Hausmittel gesetzt. „Mit gesundem Menschenverstand kommt man weit“, befindet PR-Chef Markus Hörwick, „unsere langjährigen Masseure genießen bei den Spielern mehr Vertrauen, als sich der beste Psychologe in drei Jahren erarbeiten könnte.“

Bei einem in über 25 Jahren Bundesligabetrieb geformten Haudegen wie Hermann Gerland hätte einer wie FC St. Paulis Mentalguru Kaune ohnehin Platzverbot. „Ich kann es nicht gebrauchen, daß einer dazwischenquatscht. Dieses ewige Hü und Hott“, setzt der Trainer des Zweitliganeulings Tennis Borussia Berlin weiter auf das alte Pferd. Neue Wege scheue auch der Deutsche Fußball-Bund, so Sporthochschullehrer Allmer: „Der DFB hält an verkrusteten Traditionen fest.“ Und nimmt bei dieser Kritik das Gros der Trainer nicht aus: Die seien gleichfalls wenig risikofreudig.

Kein Wunder in einer so hermetisch abgeschlossenen und fast inzestuösen Hartemännerwelt wie dem Fußball. Nur Weicheier, Warmduscher und ein paar verirrte Intellektuelle beschäftigen sich mit Seelenschmerz und emotionaler Nabelschau.

„Psychologie und mentale Schulung nehmen den meisten Platz in unserer Ausbildung ein“, klagt Allmer, „die Coaches lernen hier viel mehr, als sie später in der Praxis umsetzen wollen.“ Selbst Gero Bisanz, oberster Trainerausbilder im DFB, muß einräumen: „Es könnte viel mehr an Mentaltraining gemacht werden.“ Der bis vor kurzem noch ranghöchste Übungsleiter der Bundesrepublik, Berti Vogts aus Korschenbroich, würde sich mit diesem Satz nicht angesprochen fühlen: „Hat der Amerikaner Nasenbluten, rennt er gleich zum Psychologen.“