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Chance Romantik

Der poetische Staat und seine dynamische Stabilität: Romantische Sehnsüchte der Deutschen nach dem Mauerfall und dem Verlust des schlechteren Spiegelbilds  ■ Von Dirk Baecker

The Germans are likely to be the most badly disoriented people of modern history for a considerable period.“ Als der Soziologe und Deutschlandkenner Talcott Parsons 1945 diesen Satz aufschrieb, konnte er nicht ahnen, wie schnell er widerlegt werden würde. In Windeseile nahmen die Deutschen in Ost und West das Geschenk einer neuen Ordnung an, das ihnen die russischen und amerikanischen Götter in Uniform brachten, und richteten sich ein in einer neuen Gesellschaft. Sie erfanden eine rheinische Variante des Kapitalismus und eine sächsische Variante des Sozialismus und widmeten sich mit Erfolg dem Wiederaufbau.

Talcott Parsons konnte nicht wissen, daß die Deutschen einen Dreh finden würden, genau die „romantische Doktrin“ beizubehalten, von der er glaubte, daß sie mit dem Nationalsozialismus untergehen müßte. Diese romantische Doktrin, von der der Nationalsozialismus nur eine Ausprägung ist, war die Geisteshaltung, in der die Deutschen sich den Anforderungen der Industrialisierung und Urbanisierung im 19. Jahrhundert angepaßt hatten, ohne ihre Sehnsüchte nach den traditionellen Institutionen des Handwerks, der Bauernschaft und der Familie, nach Autorität und Hierarchie aufzugeben. Schiller, Novalis, Adam Müller und andere entwickelten die Idee eines „poetischen Staates“, der sowohl Staat war: ein stabiler Zustand in unsicheren Zeiten –, als auch Poesie: Erinnerung und Neuerfindung ganz anderer, bisher noch ungeahnter Zustände.

Die Romantiker haben vor allem deswegen von einem „Staat“ geträumt, weil sie sich nicht vorstellen konnten, wie sonst die mit der Französischen Revolution, der Industrialisierung und anderen Phänomenen einer funktionalen Ausdifferenzierung der Gesellschaft (der Buchdruck, der allgemeine Schulzwang, die Presse) gesprengten „Zustände“ („states“) der alten Gesellschaft wieder in einen neuen „Zustand“ („State“) überführt werden konnten. Sie waren jedoch gerade darin Romantiker genug und Erben des deutschen Idealismus, daß sie sich den neuen Zustand nicht mehr als stabilen, sondern nur noch als einen seinerseits dynamischen vorstellen konnten. Die Poesie, die laufend Neues aus laufend neuem Material schafft („poiesis“), ist das Beispiel schlechthin für einen instabilen Zustand, der wiedererkennbar bleibt, obwohl und weil er sich dauernd ändert. Der poetische Staat ist der Staat, der aus wechselnden Zuständen immer wieder einen neuen Zustand gewinnt und seine dynamische Stabilität nicht aus den jeweiligen Zuständen, sondern aus der poetischen Fähigkeit der Selbstfindung gewinnt.

Der preußische Staat mit seinen Institutionen des Beamtentums und des Militärs war die Form, die die romantische Doktrin bekam, eine Form, die sich auch in Berlin nur mit dem dazugehörigen Quantum Ironie aushalten ließ. Die Deutschen wurden Meister darin, sich angesichts eines durch und durch prosaischen Staates immer noch diesen poetischen Staat vorzustellen, der den Zugriff auf die ganze Welt als legitimen Einspruch gegen jede partikulare Beschränkung begreift, und den Widerspruch, der darin liegt, daß auch dieser Zugriff notwendig ein partikularer ist, dadurch unsichtbar macht, daß er sich ans Gemüt, nicht an den Verstand wendet.

Die romantische Doktrin läuft darauf hinaus, sich angesichts jeder Gesellschaft immer noch eine bessere vorstellen zu können. Als 1945 die Einsicht in die schlechte deutsche Gesellschaft nicht mehr von der Hand zu weisen war, war das noch lange kein Grund, sich von der Doktrin zu verabschieden. Eine „Schismogenese“, wie sie bei Gregory Bateson, von dem das Konzept stammt, in der „Ökologie des Geistes“ stehen könnte, kam den Deutschen zu Hilfe: der Mauerbau. Der Mauerbau dokumentierte zwei Dinge: Erstens waren beide Gesellschaften, die ostdeutsche wie die westdeutsche, besser als die nationalsozialistische. Das schaffte den hinreichenden Abstand zur Geschichte und ein grundsätzlich gutes Gefühl. Und zweitens war es auf der einen Seite der Mauer besser als auf der anderen Seite. Das machte den Blick frei für eine neue Wirklichkeit, ohne sich von der alten Doktrin verabschieden zu müssen.

Deutschland hatte jetzt beides, eine gute Gesellschaft und eine schlechte Gesellschaft, und beides doppelt. Beide guten Gesellschaften, die sozialistische und die kapitalistische, konnten sich vorstellen, immer noch besser zu werden, eine „kommunistische“ die eine und eine namenlos wohlstandsbürgerliche die andere. Und beide schlechten Gesellschaften, die sozialistische wie die kapitalistische, mußten im Blick derer von der anderen Seite der Mauer aufpassen, daß sich bei ihnen nicht hinterrücks der Faschismus wieder einschlich. Das paßte wunderbar zusammen. Die Deutschen hatten wieder einen „poetischen“, einen dynamischen, einen auf wechselnde Zustände angewiesenen Staat, in dem jedoch, anders als die Romantiker sich das vorgestellt hatten, die Wirklichkeit die Ironie ironisierte, mit der die Ironie glaubte, die Wirklichkeit auf Abstand halten zu können. Vielleicht wurde Helmut Kohl deshalb zur eigentlichen Ikone dieses Staates.

Doch 1989 fiel die Mauer. Und jetzt erst sollte sich der Satz von Talcott Parsons bewahrheiten. Die Schismogenese wurde offenkundig. Der Blick auf die andere Seite wurde zum Blick auf die eigene Seite. Jetzt mußte Deutschland auf einem Boden beides zugleich sein, gute Gesellschaft und schlechte Gesellschaft. Jetzt erst stellte sich heraus, daß die institutionellen Findigkeiten einerseits (die „korporative Gesellschaft“) und das Bildungsgut der deutschen Denker und Dichter („Weimar“) andererseits nicht mehr ausreichten, die komfortable Symbiose zwischen Anpassung an die Moderne und ihrer Ablehnung beizubehalten. Deutschland wurde albern. Helge Schneider, Christoph Schlingensief und Harald Schmidt trafen den Tonfall am besten, den der deutsche Gemütszustand annahm und in dem die letzten Reste der Romantik noch einmal heimisch wurden, andererseits jedoch auf Nimmerwiedersehen zerrieben wurden. Denn, so wie diese drei, konnte man nicht mehr nicht meinen, was man sagte und auch meinte.

Drei Themen werden gegenwärtig bewegt, in denen „Deutschland“ Abschied von Deutschland nimmt. Alle drei Themen sind geeignet, den Blick für eine andere Wirklichkeit zu öffnen. Alle drei haben immer noch auch etwas mit der Frage zu tun, ob es eine „bessere“ Gesellschaft als diese jetzige geben kann. Alle drei bedienen auch noch den Wunsch, vor der Moderne in die Moderne zu fliehen. Aber sie schauen sich genauer an, wovor man da flieht. Und sie lassen ahnen, daß nicht das andere, sondern dasselbe in einer anderen Version die mögliche Zukunft ist. Sie nehmen zur Kenntnis, daß die Moderne auf dem Spiel steht und keine Distanz mehr hilft, sondern nur noch die kühle Beobachtung des Auf und Ab der Dinge (von denen man selbst eines ist), wie sie der Held in Edgar Allen Poes Geschichte „Descent into the Maelstrom“ vorführt.

Das erste Thema lautet „Europa“. „Europa“ ist die moderne Form des poetischen Staats der Romantiker. „Europa“ erhebt Anspruch, ein poetischer Staat zu werden. Kenner der administrativen Szene in Brüssel, wenn sie nicht gerade darauf verpflichtet werden, Managementreformen anzumahnen, geraten ins Schwärmen, wenn sie den politischen Mechanismus der EU-Kommission beschreiben. Hier wird auf alle Riten einer repräsentativen Demokratie und fast jeden Proporz zwischen den Parteien verzichtet und statt dessen erfindet die Politik sich neu als ein Mit- und Gegenspieler einer Industrie, die sich längst über die nationalen Grenzen hinweg internationalisiert hat. Die Politik sucht nur am Rande nach demokratischer Legitimation, sondern bringt statt dessen den unabweisbaren Bedarf der Abstimmung unterschiedlicher regionaler und nationaler Interessen als Zwang gegenüber der Industrie zur Geltung, nur zusammen mit der Politik an neuen Regelungen arbeiten zu können. Ein konzentrierter Lobbyismus und hochmobile Reisekader arbeiten laufend an neuen Lösungen politischer Fragen, die im Detail sicherlich vielfach nicht überzeugen, aber dennoch einen Politiktyp andeuten, auf den Deutschland sich erst noch einstellen muß und der Deutschland gut tun wird. Hier läuft eine „poiesis“ ab, die nicht mehr auf Befindlichkeiten eines deutschen Biedermeiers abstellt, sondern auf einen Diagnosebedarf veränderter weltgesellschaftlicher Problemlagen.

Das zweite Thema lautet „Globalisierung“. Darunter ist nicht nur die Drohgebärde von Arbeitgeberverbänden gegenüber Gewerkschaften zu verstehen, sondern eine völlig selbstverständliche und zunehmend weltkundige Möglichkeit, in allen Fragen der Arbeit, der Kultur, der Wissenschaft, der Liebe, der Religion und des Verbrechens die Bedeutungslosigkeit nationaler Grenzen vor Augen führen zu können. Das ist für Deutschland vielleicht wichtiger als für andere Staaten, weil dieses Land um so inständiger an seinen Grenzen festhält, je später und je künstlicher sie gezogen worden sind. Wir sind alle Touristen. Aber jetzt besteht die Möglichkeit, daß wir zwar als Touristen aufbrechen, aber nicht als Touristen, sondern mit Arbeits-, Liebes-, Wissens- und Glaubenskontakten zurückkommen. Endlich zählen die Ortskenntnisse außerhalb Deutschlands mehr als die Behauptung der Sprach- als Kulturgemeinschaft. Endlich löst sich die unheimliche Allianz auf, die aus der Sprache auf die Kultur, aus der Kultur auf die Erziehung, aus der Erziehung auf Schulen und Universitäten, und aus Schulen und Universitäten auf den Nationalstaat schließen zu können behauptete. Endlich wird der Blick frei für die Unruhe der Kultur einer modernen Gesellschaft, die nicht absehen kann, wieviel Zukunft ihr noch beschieden ist, und die im Staat nicht mehr die Scheuklappen findet, die ihr den Blick auf die eigene Wirklichkeit so angenehm reduzierten.

Das dritte Thema lautet „Sozialstaat“. „Sozialstaat“ heißt heute: Laßt uns noch einmal darüber nachdenken, wie wir unsere bessere Gesellschaft organisiert haben. Laßt uns über Kosten und Nutzen, über intendierte und nichtintendierte Effekte reden. Laßt uns uns erinnern und laßt uns nachschauen, was davon noch bleiben kann und soll. Die Vokabel der „Gerechtigkeit“ kommt wieder neu ins Spiel. Für Aristoteles hieß Gerechtigkeit: Umverteilung. Noch Platon hatte ein ganz anderes Verständnis von Gerechtigkeit. Für ihn ist die Gerechtigkeit kein Rechenmechanismus, sondern die Tugend aller Tugenden. Sie lebt nicht aus dem mürrischen Vergleich mit anderen. Sondern sie lebt aus dem Vermögen, sich einen Platz zu schaffen und es auf diesem Platz auszuhalten.

An den Strippen der Leitungssysteme (Strom, Wasser, Gas, Rundfunk, Fernsehen, Internet) hängend, angewiesen auf Organisationen, die uns Arbeit geben, die uns mit Waren versorgen und die sich um unsere Freizeit, Krankheit und Gesundheit kümmern, und immer wieder an Moden gebunden, von denen wir schon heute wissen, daß sie morgen von gestern sein werden, gelingt uns nichts weniger als: einen Platz zu finden, von dem wir sagen können, das ist unserer. Welche Chance gibt die Moderne diesem romantischen Gedanken? (Und warum wird diese Frage immer wieder ausgerechnet zu einem Jahrhundertwechsel gestellt: um 1800 von Novalis, um 1900 von Simmel und Hofmannsthal, um 2000 von Schlingensief?)

Den vorliegenden Text hielt Dirk Baecker als Vortrag auf dem Congress 3000 der berlin biennale Anfang Oktober. Ungekürzt erscheint er in der Novemberausgabe der Zeitschrift „Der Lautsprecher“. Zum Thema auch: Dirk Baecker: „Poker im Osten, Probleme der Transformationsgesellschaft“, Merve Verlag

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