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Die Rentenrevolution in Polen

■ Ein Dreisäulenmodell entsteht und soll nebenbei die Finanzwirtschaft des Landes stärken

Warschau (taz) – Rentner, die auf ihre alten Tage noch Schnürsenkel verkaufen müssen, die den Passanten Bimsstein oder mickrige Blumensträuße entgegenhalten, soll es in Polen schon bald nicht mehr geben. Die Massenarmut der Rentner soll ein Ende haben. Jeder soll künftig selbst auf einem eigenen Rentenkonto seine Altersversorgung ansparen.

Seit zwei Jahren bereits bemühen sich private Lebensversicherer, den Polen ein angenehmeres Bild ihres Lebensabends zu vermitteln. „Wer vorsorgt, hat mehr vom Leben“, verspricht ein Werbespot im Fernsehen. Wenn das polnische Parlament alle Gesetze rechtzeitig verabschiedet, wird das neue Rentensystem ab dem 1. April 1999 für alle verbindlich.

Die Alterspyramide sieht in Polen nicht anders aus als in Deutschland: Immer mehr Rentnern stehen immer weniger junge Leute mit Arbeit gegenüber, die die Renten der Ruheständler bezahlen sollen. Doch während in Deutschland die Regierung lieber die Renten kürzt, um die junge Generation nicht zu ruinieren, koppelt die polnische Regierung die Umlagefinanzierung, also den Generationenvertrag, mit einem Kapitaldeckungsverfahren. Hier sparen die Erwerbstätigen das Vermögen zu ihrer Alterssicherung auf einem persönlichen Konto an. Darüber hinaus ist auch eine private Zusatzvorsorge möglich, die es bisher in Polen nicht gab. Dieses Dreisäulenmodell soll die Staatsfinanzen entlasten, den Polen eine höhere Rente als bisher sichern und den Standort Polen für europäische Versicherungsunternehmen und Banken attraktiver machen.

Das Konzept scheint aufzugehen. Die Aussichten auf lohnende Investitionen im polnischen Rentenmarkt haben bereits über 50 Banken und Versicherungen sowie Fondsmanager nach Polen gelockt. Vor einigen Wochen erst hat die Zürich Group, eine der weltgrößten Versicherungsgruppen, ihre Zusammenarbeit mit der Gewerkschaft Solidarność erklärt. Die Bank Rozwoju Eksportu (Bank für Export-Entwicklung) beispielsweise, die zu 48 Prozent der deutschen Commerzbank gehört, arbeitet mit den deutsch-polnischen Versicherung „Alte Leipziger-Hestia“ zusammen.

„Säule I“ des neuen Modells, die allgemeine Sozialversicherungskasse ZUS, ist in separate Fonds für Renten, Krankengeld, Behindertenfürsorge, Beihilfen für Familien und für Opfer von Arbeitsunfällen aufgeteilt. Die Fonds der Säule I funktionieren wie die deutsche Rentenversicherung gemäß dem Prinzip des Generationenvertrages. Die Versicherten zahlen monatlich rund 23 Prozent ihres Einkommes ein, der Arbeitgeber legt noch einmal 22 Prozent des Lohnes drauf.

„Säule II“ besteht aus rund zwanzig verschiedenen Fonds, aus denen der Versicherte sich einen auswählt. Die ZUS leitet neun Prozent des Einkommens der Versicherten auf das individuelle Fonds- konto weiter. Ein Fondswechsel ist möglich, wenn der Versicherte mit der Anlagepolitik seiner Fondsmanager nicht zufrieden ist. „Säule III“ schließlich besteht aus privaten Pensionsversicherungen, die auch Gewerkschaften oder Unternehmen anbieten können. Die hier angesparte Summe ist eine freiwillige Zusatzrente.

Das neue Rentensystem wird stufenweise eingeführt. Rund 2,7 Millionen Versicherte unter 30 Jahren werden sich demnächst einen Fonds aussuchen müssen. Weitere 7,4 Millionen Polen zwischen 30 und 50 Jahren können wählen, ob sie weiterhin allein nach dem Prinzip des Generationenvertrages ihre Beiträge an die Allgemeine Sozialversicherungskasse (ZUS) abführen, oder ob sie zusätzlich einen Fonds wählen.

Die Reform des Rentenssystems in Polen kommt einer Revolution gleich. Die Warschauer Börse wird durch den Anlagezwang der Rentenfonds kapitalkräftiger, liquider und stabiler. Auch Staatspapiere werden an Attraktivität gewinnen. Letztlich, hofft die Regierung, wird Polen durch die Rentenreform stärker in den internationalen Kapitalmarkt eingebunden. Gabriele Lesser

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