: Vermeidung von Schönklang
Kollektiver Masochismus oder die Kunst, das Suchziel zu finden. Worin besteht das Geheimnis Neuer Musik? Eindrücke von den Donaueschinger Musiktagen ■ Von Flora Spangenberg
Was Sie schon immer über Donaueschingen wissen wollten, aber bisher nicht zu fragen wagten, ist vermutlich dies: Macht das Spaß? Tut das weh? Diese vorsätzlich unharmonischen Neuen Töne? Ist da gar ein kleiner, feiner kollektiver Masochismus im Spiel?
Zahlreiche Besucher jedenfalls begaben sich freiwillig zum jährlich ausgerichteten Konzertwochenende in den kleinen Ort an der Brigach: der mit seinem 1921 gegründeten Festivalbetrieb wie kein anderer Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts schrieb, an dem schon Arnold Schönberg, Anton von Webern und Alban Berg ihre Karrieren begonnen und ohne dessen jährlich vergebene Kompositionsaufträge Größen wie Karl Stockhausen, Pierre Boulez, Luigi Nono oder Helmut Lachenmann nicht die wären, die sie heute sind. Das Ergebnis der Recherchen um Schmerz, Lust und Masochismus läßt sich etwa so zusammenfassen – Donaueschingen: geil!
Funde müssen verscharrt werden
Der Witz bei der Neuen Musik ist ja der: Es darf nichts vertraut klingen, also auch nichts wiedererkennbar sein, Funde müssen verscharrt werden, tonal darf sie schon gar nicht sein, sonst geschieht nicht Kunst, sondern wiederholt sich das Alte. Also das Gegenteil von gemeiner Popmusik oder gewöhnlicher Klassik, wo man ja gerade alles wiederfinden soll! Andererseits versuchen auch diese Klänge natürlich, Sinn anzunehmen, etwas Zwingendes zu bekommen und so etwas wie Schönheit zu erzielen – unter strenger Vermeidung vordergründigen Schönklangs. Für uns Zuhörer bedeutet das, daß wir in die Konzerte ohne Kriterien gehen, nach denen die Stücke beurteilt werden können, vielmehr jedes Stück seine eigenen Kriterien erst erschafft. Man sucht nicht nur beim Hören, man sucht zugleich herauszufinden, wonach man sucht.
Eine reizvolle Tätigkeit, vergleichbar etwa mit der Aufgabe, sein Hirn beim Hören in seine Bestandteile zu zerlegen und wieder zusammenzusetzen: in der Hoffnung, daß sich dabei anderes an Inhalt findet als vorher. Oder anderes an Kategorien. Man erhält beim Zuhören sozusagen fein pulverisierte Gehirnmasse: eine Erfahrung, die einem kein anderes Festival – Film, Theater, Rockmusik – so schnell bietet.
Kein Arbeits- und Kritikerfestival
So standen nach den Konzerten und in den langen Umbaupausen stets animierte Gruppen vor den exotischen Turnhallen- und Kirchen-Spielorten des Orts in der Oktobersonne und verglichen Eindrücke. Seit der drohenden und nicht zuletzt von der Deutschen Bank noch einmal abgewendeten Streichung des Festivals vor zwei Jahren sind die Konzerte ausverkauft.
Vorm Hintergrund von Schweigen und Nichts
Nur 40 Prozent der Besucher sind laut letztjähriger Besucherumfrage vom Fach, was das Vorurteil von Donaueschingen als elitärer Arbeits- und Kritikerinstitution außer Kraft setzt. Vom Rest, den „normalen“ Konzertgängern, gibt ein Drittel als Besuchermotiv „Spaß“ an. Zu welchem neben der idyllischen Umgebung samt Schloß und Klanginstallationen- durchsetztem Schloßpark auch der Umstand gehört, daß sich in dem kleinen Ort Publikum, Interpreten, Komponisten und ihre Feinde auf Schritt und Tritt begegnen: Hier lief der dieses Jahr gar nicht aufgeführte Helmut Lachenmann über die Straße – dort lehnte Irvine Arditti, Primarius des Arditti- Quartetts, an einem Brückengeländer und diskutierte Partituren. Das Uraufführungskonzert seines Ensembles lieferte denn auch zwei Höhepunkte des diesjährigen Festivals.
Neben Klaus Hubers Streichquintett „Ecce Homines“, das raffiniert in die sphärischen Schwebungen aus Drittel- und Vierteltönen Material aus Mozarts g-Moll- Quintett einwob, war dies vor allem das bleich-schöne Quartett „Schweigende Blumen“ des Japaners Toshio Hosokawa. Inspiriert vom japanischen No-Schauspiel und Ikebana-Blumenkunst komponierte er eine Dramatik der Schönheit vor dem Hintergrund von Schweigen und Nichts: ein Aufblühen und Vergehen. Glaubte man eben noch desorientiert in den Rissen und Ritzen der Zeit zu versinken, erhob sich in der Musik unversehens eine Stimme, kippte etwas rückwärts um, und man flehte innerlich, es möge nicht aufhören. Wahrscheinlich geschah dieses Umkippen im Gehirn, und es ist jetzt – um Woody Allen zu zitieren – zu spät, in dieser Sache noch irgend etwas zu unternehmen.
Jetzt bloß nicht an Titanic denken
Ob man beim zweiten Hören herausfände, was es war? Diese Frage stellte sich häufig, und überhaupt wünschte man sich, die Werke hier grundsätzlich mehrfach zu hören. Woran ein Komponist vier Monate arbeitet, dies in 20 Minuten beurteilen zu wollen ist ein Witz. In den 50er Jahren sah Stockhausen für sein inzwischen klassisches „Gruppen“ stets zwei Aufführungen vor: wobei das zwischen drei Orchestern sitzende Publikum sich in der Pause umsetzen sollte. An dieses Stück mußte man jetzt bei „Malstrom“ von Hanspeter Kyburz denken, der seit 1997 Professor für Komposition der Hanns-Eisler- Hochschule ist. Kyburz plazierte gleich vier Orchester um das Publikum und entfesselte im Raum zwischen ihnen gekonnt einen Strudel, bei dem man sich kurz energisch verbieten mußte, an Filmmusik für „Titanic“ zu denken.
Beim Suchen finden, wonach man sucht
Korrespondierende Bläser und Becken peitschten hin und her, zogen das Publikum in einen räumlichen Spiralwirbel, exotische Klangmassen und Farbenmixturen wurden umgeschichtet und gegeneinandergeschleudert. Kyburz scheute nicht die große Dauererregung und hatte sein aufgebotenes Material jeden Moment im Griff: Im Publikum gab es dafür den wohl größten und anhaltendsten Beifall des Festivals.
Und sonst? Obwohl dieses Jahr eher als schwacher Jahrgang galt, faszinierten von den 16 Uraufführungen weitere Werke. So versuchte Mathias Spahlinger mit „Akt, eine Treppe herabsteigend“ das Paradox von Bewegung akustisch darzustellen, inklusive Uhrenticken und wunderbarer Flugzeugklang- und Schwebeeffekte durch Mikrointervalle: Tonabstände, die so klein sind, daß sie eher als Raumvibrationen wahrgenommen werden. Man schien dem Klang- und Bewegungsuniversum im Entstehen zuzusehen. Vielleicht ist dies überhaupt der ewig alte Reiz der Neuen Konzert-Musik: daß man erst beim Suchen herausfindet, wonach man sucht, und daß die Funde nie dieselben bleiben.
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