Ausgrabungsarbeiten im Schlafzimmer

■ Antike Massengräber, verschüttete Sinnstifter, tote Beziehungskisten: Roberto Rossellinis wunderbarer Essayfilm Viaggio in Italia im Metropolis-Kino

Ein Paar im Auto. Es schweigt. Hin und wieder reißen Höflichkeiten Löcher in die Stille. Dann verabreichen sich die beiden eine knapp bemessene Dosis Aufmerksamkeit, rühren in schmalen Gemeinsamkeiten, und ihre größte ist noch die, sich nach acht Jahren Ehe nichts mehr zu sagen zu haben. Schließlich fahren sie nicht zum privaten Vergnügen durch die neapolitanische Landschaft, sondern weil er ein Haus verkaufen will. Hin und wieder klatschen Insekten gegen die Windschutzscheibe und lassen ihr Leben als schmieriger Fleck, hinter dem die Sonne blendet. Dem Mann kriecht die Trägheit des Südens wie ein lästiges Tier die Beine hoch. Nur sie und er. Das gab es lange nicht mehr, so lange, daß sie nicht wissen, ob sie sich jemals kannten. Versteinerte Sehnsucht kann die Hölle sein. In Roberto Rossellinis Viaggio in Italia von 1953 wird es höchste Zeit für Ausgrabungsarbeiten im ehelichen Wohnzimmer.

Der nächste Tag. Die Zeit wird schon sämig. „Die Faulheit hier ist entsetzlich“, schimpft er (George Sanders) und schenkt sich noch einen ein. Manchmal flirtet er auch oder fährt nach Capri. Eifersucht ist schließlich nur etwas für Lebendige. Sie, Katherine (Ingrid Bergman) unternimmt kleine Ausflüge. Besuche in den Katakomben, Besichtigung von antiken Massengräbern, in denen sich Totenkopf an Totenkopf reiht, wie gigantische Weisheitszähne eines Zeitriesen. Der Tempel des Apoll, die Räume der Sybille, ein Stück Strand an dem Äneas nach langen Irrfahrten landete, später die Briten. Rossellini malt dazu seine Filmbilder. Mal wie architektonische Skizzen, mal wie die Trugbilder de Chiricos, in denen immer irgend etwas nicht stimmt. Der Schatten, der Sonnenstand, Verkürzungen aus einer Perspektive, für die es keinen Standpunkt zu geben scheint. Effektvolle Spuren von Abwesendem und Anwesendem ohne jede Wirkung. Und Ingrid Bergmann schreitet durch die weiten Flächen wie eine klaglose Soldatin der Monotonie.

Und auf einmal wird alles reziprok. Begrabene Körper, eingekerkerte Seelen. Das antike Italien als Friedhof verschütteter Sinnstifter und die Überreste Pompejis als archäologischer Querschnitt, der erstmals sowohl öffentliche als auch private Räume freilegte. Hier wird das Paar auch der aufregenden Ausgrabung zusehen, bei der in unterirdische Hohlräume gefüllter Gips nach seiner Freilegung einen Mann und eine Frau in ihrer letzten Umarmung Gestalt gibt. Der Ausbruch des Vesuv 79 n. Chr. hat sie für die Ewigkeit aneinandergeworfen. Ein Anblick, der Katherine unerträglich wird und doch zugleich das Ventil zum eigenen Vakuum öffnet. Sie will bei ihm bleiben, als gäbe es da noch etwas zwischen ihnen, das besser ist als Nichts und Schweigen.

Thomas Thode präsentiert das damals von der zeitgenössischen Kritik wegen seines mangelnden Neorealismus gescholtene Werk in der Reihe „Der Essayfilm“. Jener Filmkunst, die spätestens mit Rivettes Engagement in Cahiers du Cinema als eigentliche Sprache moderner Ausdrucksformen gefeiert wurde und in Roberto Rossellini einen ihrer leidenschaftlichsten und kompromißlosesten Erzähler fand. Und gerade in Viaggio in Italia sah Rivette das ästhetische Wunschpotpourri aus „metaphysischem Essay, Bekenntnis, Reisejournal, Tagebuch“ in seiner reinsten Form. Danach konnte die Kinematographie nicht mehr die alte sein: „Der Film schlägt eine Bresche, und das ganze Kino muß dort hindurch, unter Androhung der Todesstrafe.“

Birgit Glombitza

Mit Einführung von Thomas Thode: Di, 27., 21.15 Uhr. Außerdem: Mi, 28. Oktober, 17 Uhr, Metropolis