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Kinderkrankheiten auf italienisch

Es tut sich was in der europäischen Theaterszene: Nach der „Next Generation“ der Briten versucht jetzt eine junge italienische Szene im Podewil zu beweisen, daß Theater auch ohne Pop radikal sein kann  ■ Von Kathrin Thiedemann

Warum nur kamen einem beim Verlassen des Theaters in letzter Zeit häufiger wieder diese Sätze von Alex aus „Clockwork Orange“ in den Sinn: „Jungsein ist wie eine Krankheit, kann wie Mumps und Masern sein...“? Der Schauspieler Herbert Fritsch hatte sie seinerzeit so herzzerreißend in der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz gesungen. Wahrscheinlich, weil Jungsein und Theatermachen ist wie die Pest: Plötzlich breitet sich wie eine Epidemie der Generationswechsel im Theater aus. Die ganze „Theaterwelt“, so kommt es einem vor, also all jene, vom früh vergreisten Theaterkritiker bis zur altersschwachen Regiegröße, die zu solchen Themen ihre Meinung öffentlich kundtun, philosophieren über den Begriff „junges Theater“. Und das nun schon seit ein paar Jahren.

Eigentlich hätte man es, was Berlin anbelangt, mit der Berufung des DT-Baracken-Ostermeiers zum designierten Schaubühnen- Chef bewenden lassen können, da entdeckten ausgerechnet die Berliner Festspiele auch noch das große Thema „The Next Generation“ und präsentierten in diesem Jahr „Junges Theater aus Großbritannien, Irland und den USA“. Und nun also „Teatri 90 – Junge italienische Szene“ im Podewil. „Teatri 90“ ist der Name eines Festivals, das erstmals im Frühjahr in Mailand stattfand, um den italienischen Nachwuchs-Performern eine Plattform zur Präsentation ihrer Arbeiten zu geben.

In Italien hat sich, ähnlich wie mit Live Art in Großbritannien, die das Podewil im Herbst vergangenen Jahres präsentierte, in den neunziger Jahren eine unabhängige Performance-Szene entwickelt, die dortzulande als „dritte Welle“ oder „Hyperavantgarde“ bezeichnet wird. Sie tritt einerseits das Erbe der freien Gruppen der sechziger, siebziger und achtziger Jahre an, indem sie Formen der Aktionskunst, Body-art und multimedialen Performance recycelt, und sucht andererseits nach radikalen Konzepten, die noch dazu in der Lage wären, die überreizten Wahrnehmungsapparate ihrer Zeitgenossen zu irritieren und Theater als Ort einer speziellen ästhetischen Erfahrung zu behaupten. Der Nähe zur Soap-opera, zur Pop- und Trash-Kultur, die die angry young men and women aus Großbritannien so erfolgreich als Markenzeichen neuer Jugendlichkeit etablierten, wird man in den Arbeiten aus Italien also eher nicht begegnen.

Fanny & Alexander, eine 1992 gegründete Gruppe aus Ravenna, eröffnete das Programm im Podewil mit „Ponti in core“. Durch künstliche Nebelschwaden hindurch betrat man ein kleines barockes, mit rotem Stoff ausgeschlagenes Theater aus Metall wie die Grabstätte auf einem Friedhof. Höchstens 24 Zuschauer haben hier Platz, die, jeder einzeln, von einem stummen Platzanweiser zu einem der leicht erhöhten, durch Wände von einander getrennten Sitz-Séparées, die ein wenig an das Chorgestühl in einer Kathedrale erinnern, geführt werden. Man schaut wie in einem anatomischen Theater auf eine rote Spielfläche, in die ähnlich einer Grabplatte ein metallisches Rechteck eingelassen ist. Hier werden in der nächsten Stunde zwei blutjunge Darsteller die Liebesgeschichte von Cipresso und Dorotea erzählen und dabei in einem gleichermaßen sakralen und profanen Ritual das menschliche Herz, diesen zu allen Zeiten immer wieder besungenen und bedichteten Muskel, zur ewigen Ruhe betten. Ihr Spiel ist von einer ergreifenden Ernsthaftigkeit, die aber immer wieder von einem repetetiven Schluchzen und den kleinen, bösen Kommentaren einer Stimme aus dem Off ironisch gebrochen wird: „Nonsens, Nonsens...“ Am Schluß legt sich das Paar auf die inzwischen von lauter Reliquien umgebene Grabplatte, nicht ohne zuvor noch eine ganze Population vergoldeter Grillen aus ihrem Gefängnis in einer kleinen roten Box befreit zu haben. Bevor die Insekten, munter umherirrend, von der Herzkammer ganz Besitz ergreifen können, werden die Zuschauer hinausgebeten. Verzaubert verlassen sie den heiligen Ort wie eine verschworene Gemeinde, die in ein intimes Geheimnis eingeweiht wurde.

Noch intimer verspricht das Theatererlebnis zu werden, das die Teddy Bear Company mit „Peep Show“ zu bieten hat. Je 7 Minuten stehen einem einzelnen Zuschauer bei diesem „Mikroritual“ für Francis Bacon und Hermann Nitsch zur Verfügung, mit dem die Gruppe normalerweise in Clubs und Diskotheken auftritt. Bei „Super“ von der Gruppe Kinkaleri aus Florenz erwartet die Zuschauer eine Tanzperformance, die mit der Fragmentarisierung von Zeit und Raum experimentiert. Und :riflessi aus Bologna wartet mit einer sehr persönlichen Reflexion zum Thema Geschlechteridentitäten auf.

Vom 22.10. bis 24.10. um 19 und 21 Uhr Teddy Bear Company: „Peep Show“, um 20 Uhr Kinkaleri: „Super“. 28.–30.10., 20.00 Uhr, :riflessi „Lotta d'angeli. Messagi da uomo in fuga“, am 24.10. um 17 Uhr Vortrag und Videopräsentation mit Silvia Fanti

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