Schweizer verabschieden sich von der Atomwirtschaft

■ Die Berner Regierung beschließt den „geordneten Rückzug“ aus der Atomenergie. Wie in Deutschland führen die Eidgenossen auch eine ökologische Steuerreform ein

Genf (taz) – Geordneter Rückzug: Nachdem die neue rot-grüne Koalition in Bonn für ihre Drogenpolitik das erfolgreiche Schweizer Modell einer kontrollierten Heroinabgabe übernommen hat, will die Regierung in Bern nun den Bonnern beim AKW-Ausstieg und bei der Ökosteuer folgen. In der Nacht zum Donnerstag beschloß der Bundesrat (die siebenköpfige Regierung in Bern) den „geordneten Rückzug aus der Atomenergie“ und verständigte sich grundsätzlich auf die Einführung einer Energiesteuer. Energieminister Leuenberger sprach von einer einheitlichen Betriebsdauer der Atommeiler von etwa 40 Jahren.

Die genaue Frist für die verbleibenden Laufzeiten der fünf AKW soll in Verhandlungen unter Federführung von Energieminister Moritz Leuenberger und Wirtschaftsminister Pascal Couchepin vereinbart werden. Anders als in Deutschland werden an den Verhandlungen nicht nur die AKW-Betreiber beteiligt, sondern auch Umweltorganisationen sowie die Kantone und Gemeinden, auf deren Territorien sich die Schweizer AKW befinden.

Bei den Verhandlungen soll auch eine Lösung für die Entsorgung radioaktiver Abfälle gefunden werden. Nur wenn (innerhalb einer noch nicht festgelegten Frist) keine Einigung zustande kommt, will der Bundesrat die Entscheidungen treffen. Der Bau neuer AKW soll künftig von einem Referendum unter den eidgenössischen StimmbürgerInnen abhängig gemacht werden. Die AKW-Industrie der Schweiz vertritt bislang allerdings die Rechtsauffassung, daß auch die Stillegung von AKW nur per Referendum beschlossen werden kann.

Mit dem völligen Abschied der Eidgenossen von der Atomenergie ist allerdings frühestens in 14 Jahren zu rechnen. Denn zugleich mit seinem Grundsatzentscheid zum „geordneten Rückzug“ aus der Atomenergie verlängerte der Bundesrat die Betriebsbewilligung für das bereits seit 1973 laufende AKW Mühleberg (westlich von Bern) um zehn Jahre und bewilligte eine Leistungserhöhung für das mit 1.085 Megawatt größte Schweizer AKW Leibstadt (östlich von Basel). Derzeit sind im Nordwesten der Schweiz fünf AKW in Betrieb, mit einem installierten Gesamtleistungsvermögen von 3.229 Megawatt. Der Anteil der Atomenergie an der gesamten Energieerzeugung in der Schweiz lag im vergangenen Jahr bei 39 Prozent. Bedeutender ist die Wasserkraft mit 59 Prozent. Fossile Brennstoffe bringen nur zwei Prozent des Stroms ins Netz. Ein Teil der in AKW produzierten Elektrizität wird ins Ausland exportiert.

Die Schweizer Sektion von Greenpeace bezeichnete die Ausstiegspläne als „skandalös“. Anstatt einen Rückzug zu beschließen, habe der Bundesrat der Atomindustrie einen Freibrief für das nächste Jahrzehnt ausgestellt.

Über Zielrichtung, Ausmaß und Modalitäten der im Grundsatz beschlossenen ökologischen Steuerreform herrschen innerhalb des Bundesrats sowie zwischen Regierung und Umweltverbänden derzeit noch größere Differenzen als in Deutschland. Andreas Zumach Berichte Seite 2