piwik no script img

Alltagsflamencos bei der Arbeit

Die Rückkehr der Tabakfabrikarbeiterin Carmen nach Andalusien: Der neue Flamenco-Star Maria Serrano will mit der Aufführung „Mi Carmen flamenca“ den Carmen-Mythos von Bombast und Dramatik befreien  ■ Von Katrin Wilke

Die neue, die 98er Carmen heißt Maria Serrano und thront im Innersleeve der „Mi Carmen flamenca“-CD auf einem Schimmel. Diesem Tier das Eigenschaftswort „weiß“ zu verpassen, scheint zunächst einmal ähnlich doppelt gemoppelt wie der Titel jenes Flamencoprojekts.

Doch so, wie es auch noch immer die Zusammenhanglosigkeit zwischen Kastagnetten und dem Flamenco klarzustellen gilt, ist umgekehrt offenbar jenes gnadenlos seinen Passionen folgende Weibsbild namens Carmen mit dem auffallend ähnlich gesinnten Flamenco ins Spiel zu bringen. So geschehen auch in der neuen Arbeit der Compañia Flamenca Alhama, einem zwölfköpfigen Unternehmen tanzender, singender und musizierender Andalusier. Sie sind wie ihre Galionsfigur Maria Serrano in Sevilla verortet, also genau dort, wo einst Prosper Mérimée die Realien für seine 1845 entstandene Novelle aufgeschnappt und damit den Startschuß zum Carmen-Trubel abgefeuert hatte.

Dreißig Jahre später strickt mit Georges Bizet ein weiterer Franzose am spanischen Jahrhundertmythos mit und verfaßt die allseits bekannte Oper. Das Original, seine Vertextung, ihre Vertonung, und was kam dann? Dann folgten die Verwandlung der Oper ins Ballettformat durch Antonio Gades und die Verfilmung bzw. das filmische Einfrieren dieser Choreographie. Zweifelsohne konnte der spanische Filmregisseur Carlos Saura mit seiner Carmen den Löwenanteil für sich verbuchen, was die wachsende Salonfähigkeit des – originär andalusischen – Flamenco außerhalb Spaniens betraf. Gerade hierzulande geriet jeder, dessen Sinne nur halbwegs gereizt werden können, ins Schwärmen darüber, wie ungleich gefühlsechter man sich – gerade mal zwei Länder weiter – musikalisch und tänzerisch zu artikulieren vermochte. Zudem wurde damit auch der Pakt zwischen Carmen und dem Flamenco in unser aller Köpfen ein für alle mal zu einer Art Binsenweisheit. Eine im opulenten Opernszenario jahrzehntelang eher verschüttgegangene bzw. exotisierte Beziehung. Während mit dem Tänzer und Choreographen Antonio Gades ein Madrilene die Carmen „flamencoisierte“, sind nun bei „Mi Carmen flamenca“ sozusagen die Alltagsflamencos am Werk. Vor allem in Jerez de la Frontera, Cádiz und Sevilla, den andalusischen Epizentren des Flamenco, funktioniert diese Volkskunst als übergreifender Lebens- und Leidensregulator. Auf dieses Süd-Nord-Gefälle hinzuweisen, wird der Chefgitarrist der Compañia, Antonio Andrade, nicht müde, beginnt doch aus dem Blickwinkel vieler Nichtspanier Andalusien direkt hinter den Pyrenäen.

Insofern hat sich die Crew von Maria Serrano allerhand vorgenommen: Einerseits die Formel Spanien = Andalusien = Leidenschaft und Erotik = Carmen durchzuschütteln und bei der Gelegenheit auch gleich den Carmen-Mythos von Dramatik und Bombast zu entschlacken und möglicherweise zu befreien. Um am Ende wohl doch die gute, alte Carmencita wieder heimzuholen.

Auf diese Gratwanderung begibt sich die überaus virtuose Flamencotänzerin Maria Serrano nebst sechs junger Kollegen gemeinsam mit doppelter gesanglicher und gitarröser Verstärkung sowie einem Flötisten. Darunter auch Juan Requena, der mit Domingo Patricio, einem ebenfalls wichtigen Drahtzieher der neuerlichen Umtriebe im Flamenco, einige der Bizetschen Vorlagen aufgemischt und ins Sevillanische Hier und Jetzt verfrachtet hat. Die Geschichte der Tabakfabrikarbeiterin Carmen wird in vier Szenen musikalisch erzählt oder, besser gesagt, getanzt. Unter den Einschüben aus der Konserve befindet sich neben Aufnahmen mit dem London Symphony Orchestra auch der Carmen- Remix eines DJs aus Japan, der Flamenco-Nation Numero zwei. Olé!

Maria Serrano & Compania Alhama: „Mi Carmen flamenca“. Heute, 20 Uhr Uraufführung, Deutsche Oper, Bismarckstr. 34–37. Nächste Aufführung: 7.12., Deutsche Oper

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen