: Ein tiefer Blick in das Herz der Finsternis
■ So düster, wie es nur geht: Martin Amis liest aus „Night Train“, Kriminalroman und Frauenportät in einem
1995 war kein leichtes Jahr für Martin Amis. Privat beutelte ihn die Midlife Crisis, als Schriftsteller wurde er von erfolgloseren Kollegen angefeindet, weil er für seinen Roman Information einen Vorschuß von exorbitanten 500.000 Pfund erhalten haben soll. Außerdem, so geht die schaurige Mär, habe Amis für 250.00 Dollar seine Zähne richten lassen. Trotz aller Probleme wurde Information zu Amis' Meisterstück. Nie hat er besser sein großes Thema auf den Punkt gebracht, den Kampf zwischen einem, der alles, und einem, der gar nichts hat.
Jetzt ist mit Night Train der neue Amis erschienen, und im Mittelpunkt steht wieder ein solches ungleiches Paar: Das All-american-Girl Jennifer ist schön, erfolgreich, glücklich – und tot. Sie soll sich gleich drei Kugeln ins Hirn gejagt haben. Ihr Vater, ein Ex-Polizist, kann nicht an einen Selbstmord glauben und beauftragt den Cop Mike Hoolihan mit dem Fall. Der ist eigentlich ein typischer US-Bulle: brutal und sentimental, ausgebrannt, trockener Alkoholiker – doch Mike ist eine Frau, wenn auch erst in zweiter Linie: „Ich bin Polizei, mein Name ist Mike Hoolihan. Ich bin auch eine Frau.“ Hoolihan begreift ziemlich schnell, daß Jennifer tatsächlich nicht ermordet wurde, und macht sich auf die Suche nach einem Motiv, denn einen Selbstmord ohne Anlaß, das darf und kann es nicht geben: „Hier geht's um Selbstmord. Und bei Selbstmord wollen wir alle ein Warum.“ Doch die Entdeckung, die Hoolihan schließlich macht, ist so erschütternd, daß sie selbst in eine existenzielle Krise gerät.
Martin Amis wirft in Night Train einen Blick ins Herz der Finsternis, in die Tiefen der deformierten menschlichen Seele: „Dieses Buch ist so düster, wie es geht. Ich habe mir gesagt, wenn es noir ist, dann soll es tiefschwarz sein.“ Auch seine früheren Romane wie Gierig oder Information waren von psychischen Wracks bevölkert, doch hatte er bisher schadenfroh Spott über seine Protagonisten ausgegossen. Schließlich versteht sich Amis als Satiriker. Diesmal jedoch behandelt er seine monströse Heldin mit Respekt, er läßt ihr die Würde: „Ich respektiere sie für ihr Bestreben, gut in ihrem Job und ein offener und ehrlicher Mensch zu sein.“
Mit Night Train ist Amis ein kleines Wunder gelungen: ein spannender Krimi und das einfühsame Porträt zweier Frauen, die – so verschieden sie sein mögen – eines verbindet: Sie haben zu lange in einen Abgrund geschaut und sind von ihm verschlungen worden.
Marcus Müntefering
Martin Amis: „Night Train“, Fischer, Frankfurt am Main, 173 S., 34 Mark
Lesung: heute, 20 Uhr, Literaturhaus, Schwanenwik 38
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen