Bergsteigen in Bremen: Was packt man ein?
■ Folge 5: Warum man je nach Begleitung doch lieber mit dem Flugzeug abstürzt
Sie erinnern sich: Ich habe ausführlich über die Gefahren des Bergsteigens reflektiert. Aber welche Ausrüstung benötigt man für eine zünftige Bergbesteigung? Mir wurde klar, daß ich in diesem Punkt ziemlich blauäugig gedacht hatte (obwohl ich eigentlich gar nicht weiß, wie man blauäugig denkt – ist das eventuell eine Synästhesie?). Man muß so vieles beachten. Um nicht in Panik zu geraten, besorgte ich mir den Outdoor-Ausrüstungskatalog der Firma Globetrotter. Das Interessante an diesem Katalog ist, daß er die Portraitfotos sämtlicher Globetrotter-Mitarbeiter aus den Filialen Hamburg, Berlin und Dresden enthält.
So erfährt man beispielsweise, daß der Hamburger Peter Claußen, Spezialist für Survival, Kanada und Kanutouren, seine Haupthaare in einem Zopf trägt, und daß seine Gesichtsbehaarung niemals älter als drei Tage wird. Der Ohrring ist Pflicht für den Survivalisten, kann er doch in der Wildnis als Angelblei, Dosenöffner, Fischentschupper, Drahtabisolierer, Rührbesen, Backschaufel oder Zahnstocher Verwendung finden. Das Indianerhalsband hat Peter Claußen vermutlich von seinem Blutsbruder aus Saskatchewan geschenkt bekommen, und seine Jacke hat er aus der Haut eines mit eigenen bloßen Händen erwürgten Karibus gedrechselt. In einem solchen Outfit versteht es sich von selbst, daß man zu cool ist, um in die Kamera zu sehen oder gar zu lächeln.
Worauf ich hinaus will: Ich glaube nicht, daß ein Naturbursche wie Peter Claußen in der Lage ist, derart nichtige Tätigkeiten wie das Verpacken und Versenden meiner Bestellung korrekt auszuführen. Bestimmt stiert er nur sehnsuchtsgeplagt in die Ferne und träumt davon, am Ufer des Yukon zu sitzen und bloß- und eigenhändig erwürgte Fische mit seinem Ohrring zu entschuppen, während sein indianischer Blutsbruder nackig ums Feuer tanzt und Beschwörungsformeln skandiert.
Da kann es schon mal vorkommen, daß man statt des bestellten geodätischen Kuppelzeltes eine Tüte gefriergetrocknete Blaubeersuppe im Versandkarton findet.
Weitaus vertrauenswürdiger erschienen mir da die Kollegen aus Dresden, im besonderen Klaus Weichbrodt, Olaf Grunwald und Thomas Knoof. Mit denen möchte ich zwar nicht in den Anden mit dem Flugzeug abstürzen, aber wenigtens lächeln sie in die Kamera und erwecken somit den Eindruck von genügend Realitätsnähe, um den Unterschied zwischen einem Zelt und einer Tütensuppe zu bemerken. Der Haken an der Sache war: In Dresden gab es nur Ladenverkauf und keinen Versand.
Also erstand ich kurzerhand ein Wochenendticket (die Schlange vor dem Bahnschalter war mal wieder elendig lang) und fuhr nach Dresden. Die Reise dauerte über den Daumen gestiert sechs bis zehn Tage. Genaueres kann ich nicht sagen, weil die Klinke der Toilettentür abbrach, als ich letztere nach notdürftiger Verrichtung öffnen wollte, und ich in der fensterlosen Kabine jegliches Zeitgefühl verlor. Nach meiner Befreiung durch einen Ruhrkranken mit Schließmuskelschwäche, der kurzerhand die Tür eintrat, begab ich mich in die Wilsdruffer Straße, Ecke Pirnaischer Platz, und äußerte den Wunsch, ausschließlich von Klaus Weichbrodt, Olaf Grunwald oder Thomas Knoof bedient zu werden, am besten jedoch von allen dreien zugleich. Leider mußte ich von Frau Giesela Kraft erfahren, daß Klaus, Olaf und Thomas gemeinsam zum Karneval nach Rio fliegen wollten und in den Anden abgestürzt waren.
Alle drei seien ums Leben gekommen, erzählte mir Frau Kraft, was um so erstaunlicher sei, weil die restlichen 119 Passagiere eine Woche später hungrig und frierend, aber ansonsten unversehrt gerettet worden seien. Klaus Weichbrodt sei vor Angst ins Koma gefallen und entschlafen, Olaf Grunwald sei in einen Schrund gestürzt und Thomas Knoof sei bei dem Versuch verblutet, seinen linken Fuß mit einem Getränkedosenverschluß zu amputieren und aufzuessen. Keiner von ihnen habe Ohrringe getragen.
Peter Claußen wäre das nicht passiert. Der hätte aus seiner funkgesteuerten Armbanduhr, seinem Gameboy und seinem Ohrring ein GPS-Satellitennavigationssystem zusammengelötet und sich die 2.000 Kilometer bis ins nächste Dorf durchgeschlagen, wobei er sich ausschließlich vom rohen Fleisch bloß- und eigenhändig erwürgter Berglöwen ernährt hätte. Das Thema bei Hans Meiser heute morgen war: „Du lebst von Sozialhilfe und bist schon wieder schwanger.“
Tim Ingold
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