„Komm, ich tröste uns beide“

In Jacques Doillons „Ponette“ sind Kinder die stärkeren Menschen. Das ist nicht bloß eine Erwachsenen-Sentimentalität, sondern eine große Stärke des Films  ■ Von Katja Stiegel

Sich an die eigene Kindheit zu erinnern ist eine Sache. Als Erwachsener aber die Welt aus dem Blickwinkel eines Kindes zu betrachten, eine andere. Jacques Doillon besitzt das nötige Einfühlungsvermögen, wie sein Film „Ponette“ zeigt, der die Konfrontation eines kleinen Mädchens mit dem Tod der Mutter schildert.

Minimalistisch, aber subtil symbolisiert der Regisseur und Drehbuchautor Doillon in der ersten Einstellung kindliche Unschuld: In einer Nahaufnahme sieht man Ponette (Victoire Thivisol), die im Krankenhausbett genüßlich schmatzend am Daumen lutscht, dem einzigen Finger, der nicht eingegipst ist. Doch bereits in dieser Szene wird der Schatten sichtbar, der auf Ponettes kindliche Unbefangenheit fällt: Ponette sieht stumm an die Wand, der Vater (Xavier Beauvois) sagt mit belegter Stimme, er werde einen Teddy auf ihren Gips malen, und müßte gar nicht mehr sagen, daß die Mutter sterben könnte.

Der Vater ist Ponette keine Stütze. Statt dessen flüchtet er sich mit seiner Trauer in wütende Äußerungen über den rasanten Fahrstil der Mutter, um schließlich seine vierjährige Tochter zu fragen: „Glaubst du, ich komme alleine damit klar?“ Und die antwortet gefaßt: „Ja, du schaffst das. Komm, ich tröste uns beide.“

Weit mehr als die Unbeholfenheit und die Märchen der Erwachsenen sind es die Phantasie und die schonungslose Ehrlichkeit der Kinder, die Ponette in ihrem Prozeß der Trauer voranbringen. Nachdem ihre Tante (Claire Nebout) von der Auferstehung Christi erzählt, versucht Ponette über Gott in Kontakt zu ihrer Mutter zu treten. Wie Ada (Leopoldine Sarre) will sie ein „Kind Gottes“ werden, um ein wenig über Ihn zu bestimmen. Ada nutzt derweil ihre Kompetenz in religiösen Angelegenheiten aus, um Ponette oberlehrerhaft von einer Mutprobe zur nächsten zu kommandieren: „Ich denke über deinen ungläubigen Vater und deine tote Mutter nach.“ Die todernst geführten Gespräche der Kinder sind naturgemäß sehr komisch. Trotzdem ist es nicht lächerlich, wenn am Ende Ponettes Mutter erscheint. Es ist die Konsequenz von Ponettes aufrichtigem Glauben an ein Wunder.

Die kindliche Perspektive ist die Stärke des Films. Zum Gelingen trugen die Interviews bei, die Doillon ein halbes Jahr lang mit vier- bis fünfjährigen Kindern führte. Unterstützt wird der kindliche Blickwinkel auch von der Kamera. Nicht selten bekräftigt sie ihre Loyalität mit den Kindern, indem sie sich auf Bauchnabelhöhe begibt. Die Kamera von Caroline Champetier läßt den Schauspielern freien Raum. Und trotz vieler Nah- und Großaufnahmen, die schonungslos die trauernde Seele Ponettes zeigen, hält sie sich zugunsten der Schauspieler zurück, übt sie sich in liebevoller, dokumentierender Beobachtung.

Die wohl rührendste Szene ist die, in der Ponette in der Hauskapelle des Sommercamps die Jesusfigur streichelt und ihn beharrlich darum bittet, mit ihrer Mutter sprechen zu dürfen. Hier erinnert die Darstellung der vierjährigen Victoire Thivisol in ihrer Natürlichkeit an Emily Watsons Dialoge mit Gott, die sie als Bess in Lars von Triers „Breaking the Waves“ führte. Es kann nicht der Kinderbonus gewesen sein, der dazu führte, daß Thivisol 1996 in Venedig den Preis als beste Darstellerin bekam. Die Palette ihrer Emotionen ist breit und differenziert und nie trägt sie zu dick auf: Erfährt sie vom Tod der Mutter, schiebt sie ihre Unterlippe vor und kämpft mit den Tränen. Sagt der Vater „Gott redet schon lange nicht mehr mit den Lebenden. Er ist für die Toten, nicht für uns“, dann drücken Blick und Körperhaltung eine ambivalente Gefühlsregung zwischen Trotz, Zuneigung, Resignation und einem Hilferuf aus.

Doillon driftet nie ins Sentimentale ab. Die Beerdigung der Mutter inszeniert er nicht als tränenreiche Grabszene, sondern zeigt, wie der Sarg unter knarrenden Lauten zugeschraubt wird. Parallel dazu montiert er eine Einstellung, in der ihr Cousin Mattias (Matiaz Bureau Caton) Ponette informiert: „Monsieur hat gesagt, wenn man kein Kissen hineinlegt, liegt man wie in einer Konservenbüchse. Wenn man ein Kissen hineinlegt, schläft sie lang. – Keine Angst, deine Mama hat ein Kissen.“ Wie bei Francois Truffauts „Les Mistons“ bricht auch bei „Ponette“ der Tod in Verbindung mit den ersten zärtlichen Gefühlen für das andere Geschlecht in die unschuldige Welt der Kinder ein: Während der Sarg zugeschraubt wird, knutscht der Cousin Ponette ab.

Außer im Vor- und Nachspann gibt es in diesem Film keine Musik. Niemand vermißt sie. Denn Doillons Dramatik wird nicht durch musikalische Kontrapunkte erzeugt, sondern spielt sich auf den Gesichtern der Schauspieler ab. Sie entsteht im Kontrast zwischen Thema, Bild und Sprache, durch unverhoffte Übergänge zwischen Komik und Melancholie.

Ponette, Regie: Jacques Doillon. Mit: Victoire Thivisol, Xavier Beauvois, F 1996, 93 Min.