■ Auf Augenhöhe
: Bis zum Kragenplatzen

Es gibt Orte in Berlin, wo die sprachliche Integration vollzogen ist und für Verständigung sorgt. In Neukölln zum Beispiel. Dort gibt es einen Platz, auf dem sich Türken, Araber, Jugoslawen und Albaner in einer ihnen fremden Sprache verständigen: in Deutsch. Freiwillig, ohne politischen Druck. Auf dem Hermannplatz, der eigentlich nur eine zubetonierte Verkehrsinsel mit zweimal in der Woche Wochenmarkt und jeden Tag Bockwurst und Schultheissbier ist, bieten sie Zigaretten und Drogen feil oder schlagen einfach die Zeit tot auf dem tristen Platz.

Gibt es Auseinandersetzungen zwischen den verschiedenen Nationalitäten, werden auch diese in der Integrationssprache ausgetragen. Nicht immer ist es leicht, in der Erregung die Grammatikregeln korrekt anzuwenden. Neulich wollte ein Argentinier am Hermannplatz telefonieren. Die drei Zellen am U-Bahn-Ausgang waren besetzt. Also wartete er. Als eine Zelle frei wurde und er reingehen wollte, versuchte ihn ein Jugoslawe daran zu hindern.

„Ich jetzt telefonieren“, sagte er im entschiedenen Infinitiv und setzte einen Fuß in die Tür. „Oh, ich habe Angst“, antwortete der Argentinier in perfektem Deutsch und verschaffte sich Zugang zum Telefon. Um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, outete sich jetzt der Jugoslawe: „Ich Mafia in Hermannplatz.“ Der Argentinier zeigte sich wenig beeindruckt. „Du bist Stück Scheiße für mich“, antwortete er. Der Jugoslawe schien den Argentinier nicht verstanden zu haben. Doch statt eines Dolmetschers holte er einen älteren Kumpel zur Verstärkung herbei. Als dieser verdächtig in seine Jackeninnentasche griff, schrie ihn der Argentinier an: „Raus, raus!“ Die anderen verstanden und machten sich aus dem Staub. So verhinderte die Beherrschung der gemeinsamen Fremdsprache ein Blutbad.

Und dann gibt es Orte in Neukölln, wo die sprachliche Integration noch sehr zu wünschen übrigläßt. Der Argentinier geht regelmäßig mit seiner deutschen Freundin in einem türkischen Lebensmittelgeschäft einkaufen. An der Fleischtheke arbeitet ein älterer Türke, dessen Deutschvokabular sich auf die angebotene Ware beschränkt. Ganz sicher geht man, wenn man auf das gewünschte Fleisch mit dem Finger zeigt. Manchmal lacht der Mann, als wolle er sich für sein mageres Deutsch entschuldigen. Spricht der Argentinier mit seiner Freundin Spanisch, hält er manchmal kurz inne, bis er merkt, daß er wirklich nichts versteht, so als würden sie Deutsch sprechen. Neulich fragte er die deutsche Freundin: „Du deutsch?“ „Ja, ich deutsch“, antwortete sie lachend und verzichtete darauf zu fragen: „Du türkisch?“ weil sie ja wußte, daß er türkisch ist.

Wenige Tage später ging das spanischsprechende Paar wieder in den Laden. Während der Verkäufer das Kalbfleisch einpackte und der für ihn unverständlichen Sprache zuhörte, platzte ihm der Kragen. Fordernd schaute er die beiden an und sagte: „Sprechen deutsch!“ Barbara Bollwahn