piwik no script img

Auf den Höhen der Spiritualität

Rishikesh, heilige Stätte am Ganges: Ihre Region dient als esoterisches Freigehege, durch das Menschen auf der Suche nach ihrer persönlichen Erleuchtung streifen. Die Ashrams – Pilgerherbergen und Lebensgemeinschaften – sind kein Ort für den investigativen Reporter. Wahrheit ist Dichtung und Dichtung Wahrheit. Gelebt wird exklusiv die Phantasie  ■ Von Stefan Schomann

Kant war schon öfter auf dem Jupiter. In Gedanken, schneller als Licht. Er sei ja nur ein fehlbarer Schüler und habe Rücksicht zu nehmen auf seine Familie. Die wahren Meister jedoch sprängen mit Zeit und Raum nach Belieben um. Von Swami Rama etwa werde man noch viel hören. „Einer der bedeutendsten Männer der Welt. Ich rede nicht von Indien – ich rede von der Welt.“

Mrinal Kant ist mein erster Lotse im metaphysischen Labyrinth von Rishikesh, einer heiligen Stadt am Ganges, zu Füßen des Himalaya. Vor zehn Jahren verließ er den Direktorenposten in einem Hotel am Taj Mahal, um seinen geistigen Neigungen zu folgen. Die Taxifahrt verläuft schweigsam. Rishikesh ist nicht der Ort, um über das Wetter zu plaudern. Dagegen konfrontieren selbst flüchtige Bekanntschaften den Gast gern und in irritierender Unbefangenheit mit Fragen wie „Was denkst du über Gott?“ oder „Was ist dein Lebensziel?“ Kant schließt die Augen und bettet die Hände in den Schoß. Er meldet uns telepathisch bei seinem Meister an.

In Jolly Grant ließ der etwa sechzigjährige Swami Rama eines der modernsten Krankenhäuser der Region errichten. Eine Staubwolke kündet sein Nahen an. Im weißen Mercedes fährt er vor, mit Chauffeur und Leibwächter. Die Scheiben gleiten herunter, huldvoll neigt er sein Haupt. Sonnenbrille, Stoppelbart. An den Händen Geschmeide. Er schreitet auf seinen Bungalow zu. Kant muß sich beeilen, ihm die rubinroten Pantoffeln zu küssen.

Kann man einen Heiligen interviewen? Wäre es dann nicht um seine Heiligkeit geschehen? Gurus sind schlechte Zuhörer: Entrücktheit gehört zu ihrer Rolle. Auf das nicht ganz unschuldige Kompliment hin, welch enormes Kapital er aufgebracht hätte, betrachtet Rama lächelnd seine Handflächen, die rein sind und leer. Dann erklärt er, daß er nachts nicht schlafe und statt dessen meditiere. Er sagt es, als überreiche er seine Visitenkarte.

Entsagung gehört zum Berufsbild der Meister des Himalaya. Ramas Gesicht läßt sich ebenso schwer beschreiben wie das eines Vollblutschauspielers. Beide gewinnen ihren Ausdruck erst in der Verwandlung, privat bleiben sie unausgefüllt. Sein Mund hängt schief, die Augen treten ungleich stark hervor, der Händedruck ist schwammig. Die Widmung, die er mir in seine Memoiren schreibt, gerät fahrig. Kein Wunder, denn im Grunde, sagt er, sei er gar nicht da. Sein Ideal wäre die Existenz als pure Energie. Deshalb die Vorliebe vieler Gurus für leuchtendes Rot: „Ich bin die Flamme“, sagt er stolz, und damit endet die Audienz.

Ganz in Rot zeigt sich auch Sri Rani Maa, die ebenfalls zu Kants spirituellen Favoriten zählt. Ein Guru schließt den anderen nicht aus. So wurde Rishikesh zu einem Basar der Erleuchtung: ein Ashram am anderen, mehr Gurus als Autos. Ein Häuflein Getreuer sitzt im Garten um die „heilige Mutter“. Kleine Gaben werden überreicht, begutachtet und dann an alle verteilt. Wieder ist es weniger die Aussage, sondern die schiere Gegenwart der verehrten Person, die eine therapeutische Wirkung entfaltet. Originalität ist kein Kriterium, eher geht es um die Tradierung ewiger Einsichten: „Erkenne dich selbst“ und „Du bist Gott“ – insofern ein jeder Teil der Schöpfung ist und mit ihr verbunden.

Am folgenden Tag beginne ich eine zweiwöchige Tournee durch die Ashrams. Früher waren das Pilgerherbergen, einige entwickelten sich zu klosterähnlichen Lebensgemeinschaften. Manche sind groß und verzweigt wie Kasernen, betreiben ihre eigene Schule, Bank und Apotheke, andere bestehen aus zwei Häuschen mit Garten. Sie reihen sich entlang des schmalen Uferstreifens und schmiegen sich an die Steilhänge.

Die Welt lernte die Vokabeln „Ashram“ und „Guru“, als im Februar 1968 die Beatles nach Rishikesh kamen, um drei Monate bei Maharishi Mahesh Yogi zu verbringen. Zwar brachen sie alle vorzeitig ihre Reise ab, als erster Ringo Starr, der sein tägliches Frühstücksei vermißte. Doch der spirituelle Schub blieb nicht folgenlos. John Lennon half er, eine Zeitlang von den Drogen loszukommen. Am Ende jenes Jahres brachten sie das „White Album“ heraus, das schon äußerlich ihre neue Reinheit unterstreichen sollte. „Ob-la-Di, Ob-la-Da“ wurde im übrigen zum Mantra einer ganzen Generation.

Ernst und streng sind die Sitten im Shivananda Ashram. Die ganzheitliche Lehre seines Gründers Shivananda und die Beflissenheit seiner Nachfolger erinnern an die Anthroposophie. Einer der Leiter ist Swami Krishnananda, ein kleiner Mann, alt und rund, aber ein Riese an Willenskraft. In seiner Fragestunde kulminiert der zyklische Tagesablauf des Ashrams. Neugierig kümmert er sich um den Kosmos ebenso wie um die Portokasse.

Als ich ihn nach seinem Werdegang frage, poltert er: „Wir haben hier keine Biographien.“ Ob aus Straubing, Osaka oder Arizona – die Jünger schweigen über ihre Motive. Es gibt Tagesgäste, Quartalsstudenten und Kettenraucher der Erleuchtung, Gitarrenvirtuosen mit verschleiertem Blick, Studienrätinnen im arbeitsmarktpolitisch bedingten Wartejahr, barfüßige Bankierstöchter, Vergessen suchend. Ebenso breitschultrige Jungunternehmer, gelegentlich auch Bauern aus den Bergen.

Die Morgenmeditation beginnt um fünf Uhr im Samadhischrein, einer langen Halle, an deren Ende das Marmorgrab des Gründers leuchtet, von ihm selbst geschaffen. Die Wände sind mit seinen Sprüchen beklebt: „Gott zu erkennen, ist deine einzige Pflicht. Sie schließt alle anderen Pflichten ein.“ Die Andacht ist gut besucht, in der Mehrzahl von Einheimischen. Indiens Meditationskultur erklärt sich auch daraus, daß sie in diesem übervölkerten und familienbetonten Land das Privileg der Isolation bietet.

Anschließend Yoga – weich, warm und empfänglich tritt man dann hinaus in den Tag. Um sieben Frühstück im Speisesaal, die übliche Diät. Dann hält Krishnananda Hof. Über Mittag ist frei, Zeit zur Lektüre der vielen Bücher und Traktate aus hauseigener Produktion. Ab fünf Uhr nachmittags reinigende Rituale, Gesänge und Meditationen. Die Nacht ist kurz.

Scharen von Pilgern waschen sich im Ganges. Farblich dominiert jenes göttliche Orange, das bei uns den Mitarbeitern der Müllabfuhr vorbehalten bleibt. Die zahlreichen Tempel sind meist keine zwanzig Jahre alt und überladen mit Götterfiguren, die einen Obolus erheischen.

Dank des Polytheismus wirft so ein Tempel oft mehr ab als ein Hotel. Durch die Kommerzialisierung sind die Priester und Gurus ins Gerede gekommen. Einigen wurden Geschäfte mit Drogen, Gold und Land nachgewiesen. Auch drängen sie zunehmend in die Politik, was dem Nachrichtenmagazin India Today einen besorgten Bericht über Rishikesh wert war.

Der Heilsbedarf bei devisenstarken Freaks und wohlhabenden Auslandsindern hat zum Werteverfall beigetragen. So entwickelte sich der Ved Nicetan Ashram zur transzendentalen Jugendherberge, seit Globetrotterführer ihn empfahlen. Die Weißen kleiden sich in wallendem ethnic chic, während die Inder im konservativen Rishikesh langärmlige Hemden und gebügelte Hosen tragen. Ein Helfer pinselt ein neues Eingangsschild: „5001 Rupien: großer Wohltäter. 2001 Rupien: mittlerer Wohltäter...“

Die einen tanzen sich in Trance, die anderen meditieren zwanzig Stunden täglich. Hier lehren sie Bewußtsein, dort Vergessen. Alle verfolgen das gleiche Ziel – Erleuchtung, die man sich als den Moment eines glückseligen Schocks vorstellen kann. Die ganze Region um Rishikesh dient als esoterisches Freigehege, durch das Menschen auf der Jagd nach diesem Schock streifen.

Auf einer Wanderung durch den Bergwald treffe ich erst einen Tiroler Bäcker, der sich in einer Höhle eingenistet hat und dort bleiben will, „bis mi da Tiger vajogt“. Und später, juchzend unter einem Wasserfall, einen Bilderbuchyogi mit Rauschebart und Lendenschurz, der sich als Magnetiseur und Unesco-Berater vorstellt. Als Nachbarn im Gitaashram habe ich ein betagtes Paar aus Delhi. Der Mann erzählt, daß er sich ein Jahr lang allein von einem Wunderkraut und Milch ernähren wollte, um mit der Kraft seines Urins Kupfer in Gold zu verwandeln. Leider habe er nach drei Monaten „aus familiären Gründen“ abbrechen müssen. Jetzt will er das Experiment mit einem Schimpansen wiederholen.

Die vielleicht schönste Geschichte, die mir begegnet, ist die von Mauni Baba – dem Mann, der nicht spricht. Nur wenige Menschen kennen sein Haus auf einer Waldlichtung. Mauni Baba hat ein Schweigegelübde getan. Zu den paar Dingen, die er besitzt, gehört eine Schieferplatte, die er mit einem Griffel beidseitig beschreibt und mit der bloßen Hand abwischt. Er trägt einen Seemannsbart und ist vielleicht 65 Jahre alt. Keiner hier hat je seine Stimme gehört.

Aus freien Stücken schreibt er mir sein Leben auf, wofür er die Tafel unzählige Male abwischen muß. Die Haut seiner Hände und Füße ist kräftig und von dunkler Färbung, wie man es bei Menschen findet, die lange im Freien und in der Kälte lebten. Aus seinen Augen spricht eine Aufmerksamkeit, die den Berufsgurus fehlt. Er sei ein Prinz gewesen, schreibt er, aus einem Fürstentum im Norden. Er habe es zum Privatsekretär von Nehrus Schwester gebracht, sich dann aber aus der Welt zurückgezogen.

Er schreibt zwei Stunden lang. Ob es noch jemanden gäbe, frage ich schließlich, den zu besuchen er mir empfehlen würde? Er nickt, setzt zwei Worte auf sein Täfelchen und reicht es mir. „Dich selbst“. Dann greift er sich die Platte noch einmal und fügt hinzu: „Bald besucht mich die Tochter von Charles de Gaulle.“

Ist das jetzt wahr? Ist dieser Mann ein Heiliger? Oder ein Narr? War Kant auf dem Jupiter, war ich in Indien? Es gibt keine Wahrheit, wohl aber Geschichten. In diesem Sinn wäre ganz Indien ein Megaashram: Die Hölle für Empiriker, ein Fegefeuer für Glaubenssucher, doch ein Paradies für Parteigänger der Phantasie.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen