Streitpunkt Martin Luther

Sieht der Vatikan Martin Luther noch als Ketzer? Vor 481 Jahren stellte er den katholischen Klerus an den Pranger. Seither ist die Christenheit gespalten. Versöhnung fällt schwer. Eine Bilanz zum Reformationstag  ■ von
Rüdiger Runge

Den jungen Mönch Martin Luther trieben in den zwanziger Jahren des 16. Jahrhunderts innere und äußere Gründe zur Rebellion gegen seine Kirche. Er rang heftig mit sich selbst und seinem Glauben. Oft am Rand der Verzweiflung, fragte er: „Wie kriege ich einen gnädigen Gott?“ Daß der allzeit sündige Mensch sich Gottes Zuwendung durch gute Werke verdienen könne, wie seine katholische Kirche es lehrte, war eine Vorstellung, die ihm, in ständiger Angst vor Gottes strafender Gerechtigkeit, wenig glaubwürdig erschien und die ihn belastete, da er die Ergebnisse seines eigenen Bemühens nur zu oft als Scheitern empfand.

Außerdem war bei Buße und schulderlösenden guten Taten Bargeld ins Spiel gekommen. Der schwunghafte Ablaßhandel mit kirchlichem Segen empörte ihn und gab den äußeren Anstoß zum Widerspruch, den er mit seinen berühmten 95 Thesen zum Ausdruck brachte. Ob er sie wirklich am 31. Oktober 1517 ans Portal der Schloßkirche zu Wittenberg nagelte, darüber sind die Gelehrten genauso uneins wie über Zeitpunkt und Verlauf des „Turmerlebnisses“ im Wittenberger Augustinerkloster, das Luther seine reformatorische Grundeinsicht über die Rechtfertigung beschert haben soll.

Wann läßt Gott einen Menschen, bei aller Sündhaftigkeit und Schuld, vor sich als einen Gerechten gelten? Luthers Erkenntnis: Du mußt Gott nicht erst beweisen, daß du seiner würdig bist – und dich ein Leben lang unwürdig fühlen. Sondern Gott nimmt dich an als Mensch, so wie du bist – allein aus Gnade, sola gratia. Was immer du tust: Es ist recht, daß es dich gibt.

Damit ist, auch nach lutherischer Überzeugung, noch lange nicht gleichgültig, wie du dich auf Erden verhältst. Doch das Gerechtfertigtsein vor Gott ist keine Frage der guten Werke des einzelnen, sondern Gottes bedingungsloses Geschenk an jeden Menschen. Der ist stets und unausweichlich Gerechter und Sünder zugleich – simul justus et peccator.

Und gerecht, so hatte der christliche Apostel Paulus wenige Jahre nach Jesu Tod im dritten Kapitel seines Briefs an die Gemeinde in Rom geschrieben, wird der Mensch „allein durch Glauben“, sola fide. Die Quelle aber, aus der dieser Glauben sich erschließt, ist, wie Martin Luther erkannte und der katholischen Kirche seiner Zeit entgegenhielt, sola scriptura, nur das Wort der Heiligen Schrift und nichts sonst.

Eine glasklare, kraftvolle Glaubenslehre – und eine befreiende, erleichternde Vorstellung für jede und jeden einzelnen. Das Angenommensein – Gesprächspsychotherapeuten sprechen von „unbedingter positiver Wertschätzung“ – ist weder abhängig von den eigenen Leistungen in der Konkurrenz um die Gunst des himmlischen Vaters (oder irdischer Mütter), noch zwingt das Ringen darum in die Spirale unaufhörlicher Selbstrechtfertigung, aus der sich die ausschließlich aufs eigene Ich Geworfenen oft nicht mehr lösen können.

Im 16. Jahrhundert führten die Ansichten des Martin Luther über Gnade und Rechtfertigung zum Kirchenzerwürfnis. Luthers Gefolgsleute waren nicht zimperlich im Kampf mit dem verknöcherten Klerus. 1530 verurteilten sie in ihren Augsburger Bekenntnisschriften Teile der römischen Lehre als nicht dem Evangelium gemäß. Die katholische Kirche nahm die Fehde an. 1547 kam sie auf ihrem Konzil in Trient zu dem Befund, die Theologie des Reformators sei in allen wesentlichen Punkten als Ketzerei zu verwerfen.

Damit war für Jahrhunderte die Spaltung der Christenheit besiegelt: in Katholiken, in Evangelische unterschiedlicher „Sorten“ und Orthodoxe. Seither aber haben sich die Verhältnisse radikal gewandelt. Die Christlichkeit des Abendlandes bröckelt unübersehbar; in manchen Gegenden Europas ist sie in institutioneller Hinsicht gar bedeutungslos. Zugleich verstehen die immer weniger werdenden Christen selbst kaum noch, was sie trennt. Wäre es da nicht an der Zeit, die theologischen Gräben zu schließen und als mutige Minderheit in der Zukunft gemeinsam von dem Glauben zu sprechen, der die Christenheit eint?

Weil heutzutage viele Christen so denken, waren die Begeisterung und die Hoffnungen, die in die „Gemeinsame Erklärung“ (GE) zur Rechtfertigungslehre gesetzt wurden, anfangs so groß. Diese GE, an der beide Seiten weltweit seit Jahren arbeiten, sollte eine Art Präambel abgeben, um Katholiken und Protestanten ökumenisches, also glaubensrichtungsübergreifendes und gemeinsames Handeln zu ermöglichen. Aber nur die besonders Gutgläubigen und Einheitsfrohen konnte ernsthaft überraschen, wie schnell und nachhaltig Wasser in den Wein gegossen wurde. Denn offenkundig wirkt der spalterische Streit aus dem 16. Jahrhundert bis heute nach.

Denn der Vatikan wollte trotz der GE sein Verdikt gegen die Kritik Luthers nicht aufheben. Innerhalb der evangelischen Christenheit reagierte man verschnupft auf diese Haltung, die nichtkatholische Christen weiterhin für Abtrünnige zu halten scheint. So sah sich der Lutherische Weltbund (LWB) zu einer feierlichen Unterzeichnung des gemeinsamen Dokuments, wie ursprünglich geplant, nicht mehr imstande.

Als erster Versuch zur Schadensbegrenzung ist ein Brief des Vorsitzenden der römischen Glaubenskongregation, Joseph Kardinal Ratzinger, zu werten, den die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 14.Juli veröffentlichte. Ratzinger hebt darin den Unterschied hervor zwischen der Äußerung des Heiligen Stuhls „im eigentlichen Sinne“, daß in Grundwahrheiten der Rechtfertigungslehre Übereinstimmung bestehe, und den anschließenden „Präzisierungen“, die demgegenüber nachrangige Bedeutung hätten.

Auf gleicher Linie liegt ein Schreiben, das der Vorsitzende des päpstlichen Einheitsrates, Edward Idris Kardinal Cassidy, zwei Wochen später an LWB-Generalsekretär Ishmael Noko sandte. Der Kardinal bekräftigt darin, der Vatikan sei bereit, die GE in der vorliegenden Fassung „vollständig“ und „ohne Verzögerung“ zu unterzeichnen. Zugleich wies Cassidy darauf hin, sowohl die Erklärung als auch der Beschluß des LWB-Rates hielten lediglich fest, daß der „Dialog in bezug auf bestimmte Fragen“ fortgesetzt werden müsse.

Wie die Sache nun weiter- und ausgeht, weiß derzeit wohl niemand. Aktueller Stand der Dinge ist: Am 13. und 14. November wird das Exekutivkomitee des LWB in Genf unter dem Vorsitz des Braunschweiger Bischofs Christian Krause als Weltbundpräsident darüber beraten, wie der LWB auf die Antwort aus dem Vatikan im Lichte der zwischenzeitlichen Erläuterungen reagiert.

Einen möglicherweise gangbaren Weg hat der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, der Mainzer katholische Bischof Karl Lehmann, vorgezeichnet: an dem mit der Gemeinsamen Erklärung erreichten fundamentalen und kirchengeschichtlich bedeutsamen Konsens ohne Abstriche festzuhalten und für die verbleibenden – offenbar doch nicht so unerheblichen – Meinungsunterschiede ein „gemeinsames Programm zu deren Aufarbeitung“ zu entwickeln.

Was vorläufig bleibt, ist ein schaler Nachgeschmack und die Frage: Ist die Suche nach Konsens der richtige Weg in eine ökumenische Zukunft von christlicher Kirchengemeinschaft? Auch wenn die GE noch zu retten sein sollte: Bei der Rechtfertigungslehre – immerhin der Anlaß und die wichtigste theologische Kritik am katholischen Klerus – sind die Beteiligten ins Stolpern geraten. Und zwar mit dem schwierigen Versuch, Übereinstimmungen auszuloten und verbindlich zu kirchlichen Gemeinsamkeiten zu erklären.

Denn aus dem Tritt kommt die Ökumene gegenwärtig auch an anderen Stellen, beispielsweise zwischen protestantischen und orthodoxen Kirchen bei so prekären Fragen wie der Stellung zur Homosexualität oder der Frauenordination, also der Einsetzung von Theologinnen ins Priesteramt. Anfang Dezember wird es genau über diese Punkte bei der Weltkirchenkonferenz in Harare, Zimbabwe, Auseinandersetzungen geben.

Im evangelisch-katholischen Gespräch liegen die nächsten Stolpersteine bereits in Blickweite, und es sieht ganz danach aus, als seien diese Brocken noch massiver als die Streitpunkte, an denen man sich bisher abgearbeitet hat. Themen wie das unterschiedliche Verständnis vom Abendmahl; während Protestanten Wein und Brot als Symbole sehen, handelt es sich für Katholiken tatsächlich um das Blut und den Leib Jesu Christi. Darüber hinaus können evangelische Laien durchaus tragende Ämter übernehmen, was der Vatikan vehement ablehnt.

Gewiß ist: Kirchen haben es ihrem Wesen nach mit Fragen der Wahrheit zu tun. Auch wenn sie anerkennen, daß sie nur in zeit- und situationsbedingter Vorläufigkeit sprechen können, stoßen Kompromißfindungen rasch an Grenzen, wo es ums Ganze der Wahrheit geht. Schnell sieht die eine oder die andere Seite das für sie Unaufgebbare in Gefahr und droht der Preis der Einheit zu hoch auszufallen.

Statt Differenzen einebnen zu wollen, in denen sich stets auch Vielfalt, Leben und Eigenständigkeit widerspiegeln, führt vielleicht ein anderer Ansatz weiter: Produktiv wäre, die Unterschiede gemeinsam zu erkennen, einander in dieser Unterschiedlichkeit anzuerkennen und sich vereint den Problemen der heutigen Zeit und Welt zuzuwenden.

Die Reformation läßt sich nicht für ungeschehen erklären, wie es viele römische Kleriker vielleicht gerne hätten. Und sie sollte auch nicht der Vergessenheit anheimfallen. Zum derzeitigen Disput bringen interessanterweise der römische Kardinal Ratzinger und Eberhard Jüngel, der scharfe evangelische Kritiker der GE, ein und dieselbe Überlegung ins Spiel, die die verhärtete Lage entspannen könnte.

Gelänge es miteinander, meinen beide, die Lehre von der Rechtfertigung in einer Sprache für die Gegenwart neu zu formulieren, so daß ihre existentielle Bedeutung für das Menschsein wieder erkennbar wird, dann könnten sich die konfessionellen Gegensätze der Vergangenheit als hinfällig erweisen.

Rüdiger Runge, 46, Journalist und Psychologe, ist Pressesprecher des Deutschen Evangelischen Kirchentages