: Einblicke ohne Offenbarung
■ Die Kurzfilme des Experimentalfilmers Michael Brynntrup im Filmkunsthaus Babylon
Wovon man nicht sprechen kann, darüber soll man Filme machen.“ Mit diesem Satz öffnet Michael Brynntrups Kurzfilm „Tabu V“. Der Titel ist zweierlei: deutlicher Verweis auf das, was sich nur auf die Gefahr von Sanktionen hin benennen läßt, und zugleich Kürzel für Tagebuch. Gemeinsam mit dem Eröffnungssatz, einem entstellten Wittgenstein-Zitat, steckt er das Terrain ab, auf dem sich Brynntrups 13minütiges Experiment bewegt. Es geht ums Private, um den Filmemacher selbst, seine Liebhaber, seine Neuköllner Existenz, sein Verhältnis zum Tod.
Dementsprechend nimmt es nicht wunder, wenn wir mit der Kamera durch Brynntrups Tagebuch stöbern oder einen Blick auf seine persönliche Sexstatistik werfen. Das ist nicht nur in „Tabu V“ so, auch in anderen Filmen – etwa in „Loverfilm“ von 1996 – rückt der Künstler Brynntrup die Privatperson Brynntrup in den Mittelpunkt, listet etwa deren Liebhaber auf, gibt scheinbar Einblick in Intimes und offenbart dabei vor allen Dingen, daß es nichts zu offenbaren gibt. Konsequent schließt „Tabu V“ mit dem zurechtgerückten Zitat von Wittgenstein: „Wovon man nicht sprechen kann, darüber muß man schweigen.“ Wir mögen zwar glauben, der öffentlichen Beichte eines Menschen beigewohnt und dadurch Wesentliches erfahren zu haben; in Wirklichkeit aber verrät die Rede von den intimsten Details nichts, sind wir mit großem Geschick genasführt worden.
„Tabu V“, bei der diesjährigen Berlinale in der Sektion Panorama als bester Kurzfilm ausgezeichnet, ist Teil eines zweitägigen Brynntrup-Programms im Filmkunsthaus Babylon. Sechsmal Brynntrup am Stück – das ist eine seltene Gelegenheit, laufen die Werke des 39jährigen Filmemachers doch sonst nur als Vorfilme bei der Berlinale.
Im Babylon ist nun neben „Tabu V“ und „Loverfilm“ unter anderem „All You Can Eat“ dabei, ein sehr rhythmischer, auf 35 Millimeter gefilmter Zusammenschnitt von 70er-Jahre-Schwulenpornos, der nichts anderes als die Gesichter der erregten Männer zeigt. Brynntrup legt den Köder Sex aus, kokettiert gar über mehrfach eingeflochtene Warnungen damit, daß er allzu explizites Material verarbeite, verweigert aber den Anblick der Körper: Auch hier spielt er mit der Dialektik von Zeigen und Verbergen, und er tut es mit viel Raffinesse.
Anderswo schert Brynntrup – um unvorhergesehene Wendungen nicht verlegen – aus genau dieser Dialektik aus. In „Aide Mémoire. Ein schwules Gedächtnisprotokoll“ (1995) porträtiert er den Berliner Fotografen Jürgen Baldiga, der 1993 an den Folgen von Aids verstarb. Baldigas Anspruch, mit seinen Fotografien „Freunde, die aidskrank sind, in ihrer Würde darzustellen“, findet sich in Brynntrups Film eingelöst; „Aide Mémoire“ vermeidet spektakuläre Töne, ohne daß deswegen der Schrecken des vorzeitigen Sterbens unerwähnt bliebe. Für die Dauer des Porträts erfüllt sich, was Brynntrup in „Tabu V“ nur ironisiert: Wenn man vom Tod nicht sprechen kann, so läßt sich doch ein Film darüber machen. Cristina Nord
1. u. 3. Nov., 21 Uhr, Filmkunsthaus Babylon, Rosa-Luxemburg- Platz, am 1. Nov. in Anwesenheit des Regisseurs
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