piwik no script img

Es muß ein Recht auf Faulheit geben

■ Die über 100 Jahre alte Streitschrift von Paul Lafargue „Recht auf Faulheit“ wurde neu aufgelegt und weist in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit erstaunlich aktuelle Bezüge auf

Ist es besser für einen Arbeitslosen, wenigstens irgendeinen Job zu haben als gar keinen? Ja, würden die Sozialpolitiker heute sagen, darunter auch viele rot-grüne. In einer Zeit der strukturellen Massenarbeitslosigkeit ist Arbeit nicht nur das allgemein akzeptierte Medium zur Verteilung von Einkommen, sondern schafft Lebenssinn, dient als Antidepressivum, Statussymbol, Instrument der sozialen Disziplinierung und oft auch Familienersatz. Nie war Arbeit so wertvoll wie heute.

Genau deswegen erscheint die Streitschrift „Recht auf Faulheit“ nur auf den ersten Blick inaktuell, auf den zweiten Blick jedoch hochbrisant. 115 Jahre nach seinem ersten Erscheinen im Jahre 1883 wurde das Pamphlet des eigenwilligen französischen Marxisten Paul Lafargue jetzt neu aufgelegt. Der Kernsatz, „die Arbeit als Selbstzweck zu verneinen“, sei „ganz und gar nicht überholt“ schreibt Pablo Pereza in seinem Vorwort. Nur geht es heute nicht mehr um die Arbeitsverweigerung der ausgebeuteten Arbeiter gegenüber den „faulen“ Bourgeois. Vielmehr hat alle der Arbeitswahn befallen.

Aktuell klingen die Eingangssätze Lafargues von 1883: „Eine seltsame Sucht beherrscht die Arbeiterklasse aller Länder, in denen die kapitalistische Zivilisation herrscht (...) Diese Sucht ist die Liebe zur Arbeit, die rasende, bis zur Erschöpfung der Individuen und ihrer Nachkommenschaft gehende Arbeitssucht.“

Und weiter, als habe Lafargue die heutige Zeit vorweggenommen: „Statt in den Zeiten der Krisis eine Verteilung der Produkte und allgemeine Belustigung zu verlangen, rennen sich die Arbeiter vor den Türen der Fabriken die Köpfe ein. Mit eingefallenen Wangen, abgemagertem Körper überlaufen sie die Fabrikanten mit kläglichen Ansprachen: ,Lieber Herr Chagot, bester Herr Schneider, geben Sie uns doch Arbeit, es ist nicht der Hunger, der uns plagt, sondern die Liebe zur Arbeit.‘“

Wer sich so anpreist, so Lafargues Botschaft, muß auf dem Tiefpunkt der Selbstverleugnung angekommen sein. Mit einfachen Klassenkampfparolen ist daran jedoch wenig zu ändern. Schließlich habe auch das Proletariat selbst die Parole „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen“ zum Prinzip erklärt, wie Lafargue mit einem Seitenhieb auf Lenin anmerkt. Im Untertitel nennt er seine Schrift daher „Widerlegung des ,Rechts auf Arbeit‘ von 1848“ in Anspielung auf eine Forderung der revoltierenden Pariser Arbeiter. Heute wie damals erscheint eine Forderung nach dem „Recht auf Faulheit“ als Provokation für die Masse der Beschäftigten.

Zwei Dinge sind allerdings seit Lafargues Zeiten hinzugekommen. Erstens gibt es das klare Feindbild des Bourgeois nicht mehr, und zweitens leiden die Industriestaaten alle unter einer strukturellen Massenarbeitslosigkeit, wie sie Lafargue noch nicht kannte. Sein Bild der herrschenden Klasse, die den „Bauch der Bourgeoisie“ vor sich herträgt und ihrerseits faul und zu „Überkonsum“ verdammt ist, gilt nicht mehr. Wer heute tatsächlich Macht hat, der arbeitet.

In der strukturellen Massenarbeitslosigkeit von heute sind es zudem gerade die nichtbeschäftigten Individuen, die gesellschaftlich ausgeschlossen werden wie früher die Proletarier. Auch Lafargue würde deren Jobsuche heute nicht als Selbstverleugnung brandmarken. Die Geschichte hat Lafargues Argumentation überholt – und zugleich bestätigt.

Denn Ausbeutung ist längst zur Selbstausbeutung geworden, wenn bei den Workaholics von heute Arbeit und Freizeit verschmelzen. Es gibt keine ausbeutende Klasse mehr, wenn Produktionsteams in „Gruppenarbeit“ „selbstbestimmt“ arbeiten und dabei auf die schwächeren Mitglieder Druck ausüben. Hinter der neuen „freiwilligen“ Arbeitssucht steht oft nichts anderes als die Angst, abgehängt zu werden.

Damit behält Lafargue am Ende recht. Es gehört heute wie früher eine privilegierte soziale und persönliche Ausstattung dazu, sich dem allgemeinen Arbeitswahn zu entziehen und beispielsweise mal ein „Sabbatical“ zu nehmen. Wer es biographisch und mental auf die Reihe kriegt, kann vorübergehend Happening- Künstler werden wie die wechselnden Mitglieder der „Glücklichen Arbeitslosen“, die den Zeitgewinn durch Joblosigkeit feiern. Allerdings gibt es noch eine Gruppe, die Lafargue vor 100 Jahren nicht kannte: Langzeitarbeitslose, die sich zwischen öffentlich finanzierter Stütze und Nebenjobs das „Recht auf Faulheit“ nehmen.

Polemisch meinte Lafargue, drei Stunden Arbeit am Tag müßten reichen, um den Arbeitern ein „Recht auf Faulheit“ zu gewähren. Nicht drei, aber vier Stunden am Tag arbeiten beispielsweise heute Sozialhilfeempfänger, die sich mit Drei-Mark-Jobs etwas zur Stütze hinzuverdienen. Sie bevorzugen diese Teilzeitarbeit gegenüber den „richtigen“ Vollzeitjobs in Materiallagern oder bei Speditionen, wo sie sich mies bezahlt unter einem Chef verschleißen müßten. Diese Leute verwirklichen „das Recht auf Faulheit“. Aber man wird sie künftig nicht mehr lassen. Barbara Dribbusch

Paul Lafargue: „Recht auf Faulheit“. Neuauflage 1998. Trotzdem Verlag, Grafenau zusammen mit Anares Nord, 31315 Sehnde, 10 DM

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen