: Bedürftig oder nicht bedürftig ...
■ Spendenaktion von Sozialressort und Weser-Kurier ist weiter fragwürdig / Erster Fall hat angeblich Anrecht auf staatliche Hilfe
Die gemeinsame Aktion „Weihnachtshilfe“ von Sozialbehörde, und Weser-Kurier (WK) stößt weiterhin auf harsche Kritik. Gleich das erste „Schicksal“, das am Samstag mit Spendenaufruf veröffentlicht wurde, erscheint fragwürdig. Nach Einschätzung von SozialrechtsexpertInnen hätte der Obdachlose ohnehin Anspruch auf staatliche Hilfe. Dies sei – trotz Verpflichtung – offenbar nicht ausreichend geprüft worden.
„Damit wird neben gesetzlichen Ansprüchen eine zweite Schiene aufgemacht. Das ist fatal“, sagt Gitta Barufke, Rechtsberaterin der Aktionsgemeinschaft arbeitsloser Bürger (AGAB). Sie befürchtet ebenso wie die sozialpolitische Sprecherin der Grünen, Karoline Linnert, daß die staatlichen Ansprüche ausgehebelt werden.
Das erste „Schicksal“ des Weser-Kuriers erhält nur 900 Mark Arbeitslosenhilfe. „Um eine Wohnung über das Sozialamt zu bekommen, hat er zuviel, um sich selbst eine zu suchen, zu wenig. Anderthalb Monatsmieten Deponat wären erforderlich ...“, heißt es weiter. Darum die Obdachlosigkeit. Dann folgt ein Spendenaufruf.
Barufke vom AGAB fragt sich: „Warum zahlt das Sozialamt das Deponat nicht?“ Linnert von den Grünen geht noch weiter: „Ich halte dieses Vorgehen für rechtswidrig.“ Sie wirft Sozialsenatorin Tine Wischer (SPD), die stellvertretende Vorsitzende der „Weihnachtshilfe“ ist, vor, die einzelnen Fälle zu wenig zu prüfen. Das beweise bereits der Auftakt. Laut Paragraph 72 Bundes-Sozialhilfegesetz (BSHG) habe der Mann ein Anrecht auf staatliche Hilfe. Darüber hinaus stelle sich die Frage, warum er bei 900 Mark Arbeitslosenhilfe keine ergänzende Sozialhilfe bekommt? „Das werde ich die Senatorin in der nächsten Sitzung der Sozialdeputation fragen. Sie hat vor der Bürgerschaft versichert, daß jeder Fall eingehend geprüft wird“, so Linnert.
Denn eine eingehende Prüfung scheint nicht erfolgt zu sein. Nach Angaben von Wischers Sprecher Holger Bruns hat sich die zuständige Referentin auf die Aussagen des Obdachlosen verlassen: „Wir können für die Aktion nicht drei Mitarbeiter abstellen.“ Bruns verweist zudem darauf, daß es ab bestimmten Einkommen keine Verpflichtung zur Übernahme eines Deponats gibt. Im aktuellen Fall räumt er jedoch ein: „Ob der als Startschuß geeignet war, diese Frage kann man sich zurecht stellen.“
Beim WK ist man darüber nicht gerade sehr glücklich. Chefredakteur und „Weihnachtshilfe“-Vorsitzender Volker Weise sagte gestern: „Der Fall ist bedauerlich. Ich gebe den schwarzen Peter ungern weiter, aber es war klar vereinbart, daß die Sozialbehörde die einzelnen Fälle eingehend prüft. Wir wollen uns für Menschen einsetzen, bei denen staatliche Hilfe nicht greift.“ Dazu liegen laut WK in Sozialämtern, Sparkassen und im Pressehaus Anträge aus. Fehlanzeige: Die Samariter-Blättchen sind noch gar nicht gedruckt. Jens Tittmann
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