: Meuterei auf der Gummi-Insel
■ Wie ein Viertel in Aufruhr geriet, weil das ZDF die Bewohner in einer Ankündigung kriminell nannte. Die Werbung war wohl reißerischer als der Film ("Deutsche Desperados", 21.15 Uhr)
Die 78 kleinen, roten Backsteinhäuschen sind herausgeputzt wie Puppenstuben, weiß verfugt und Wolkenstores. Früher war das Stadtviertel in Gießen-West, die „Gummi-Insel“, in Regenzeiten vom Wasser umgeben. Die Frauen arbeiteten in einer Gummifabrik, zogen Flaschen- und Einmachringe auf. Die Siedlung ist 1936 gebaut worden, Volkswohnungen im Stil englischer Arbeitersiedlungen für kinderreiche Familien. Viele der Bewohner sollten seßhaft gemacht werden, fahrendes Volk vom Rummelplatz, Hausierer, Schrottler und Eisverkäufer. In der Nachkriegszeit fuhren Sinti und Roma diesen Platz wieder an. Ab 1966 entstanden neue Schlichtbauten für Obdach- und Arbeitslose, die schnell zum sozialen Ghetto wurden.
Gemeinsam mit den Bewohnern begann 1986 ein vielbeachtetes Sanierungsprogramm. Das alles ist eine Geschichte, Stoff für einen Dokumentarfilm. Einen solchen gab das ZDF in Auftrag, doch am Ende der Dreharbeiten waren alle Beteiligten sauer: die Bewohner, der Fernsehautor Marc Wiese und der Sozialdezernent der Stadt. Briefe wurden gewechselt, Vorwürfe akribisch aufgerechnet – obwohl außerhalb des Senders noch niemand den Film gesehen hat, der heute abend gesendet wird. „Deutsche Desperados – das Dorf der Schrottler, Schausteller und Hausierer“ – schon den Titel empfanden manche in Gießen beleidigend.
Schlimmer aber sei, so Mieterrätin Eleonore Strehle, die Filmankündigung des ZDF, die in ganz Deutschland in den TV-Zeitschriften stand. Der Text über die Bewohner der „Gummi-Insel“: „Sie arbeiten schwarz, abseits von der Gesellschaft, erhalten einen illegalen Wirtschaftskreislauf seit Jahren lebendig.“ „Der sozialen Ruhe wegen“ würden die Behörden bei dem kriminellen Treiben untätig zusehen. So versprachen die Fernsehzeitschriften Knackis, zusammengeschlagene Polizisten und Schwarzarbeiter.
Da regte sich Widerstand. „Wir sind in unserer Menschenwürde verletzt“, sagt Eleonore Strehle, Kinder seien schon beschimpft worden. Einige Bewohner riefen beim Filmautor Marc Wiese an, der selbst seit Jahren in Gießen lebt, und beschwerten sich.
Wiese entschuldigte sich für den Pressetext, der nach allem, was aus dem ZDF zu erfahren ist, von ihm selbst auch gar nicht zu verantworten ist. Der Film, beschwichtigte auch Chefredakteur Klaus Bresser, sei in seiner Endfassung ganz anders, pauschalisiere nicht und zeige nur Einzelschicksale.
Doch mit der Entschuldigung war der Konflikt nicht beendigt. Die offiziellen Stellen der Stadt nahmen sich des Streits an und forderten „filmische Wiedergutmachung“ (der örtliche SPD-Chef) für den noch gar nicht gesendeten Film. Der evangelische Probst von Oberhessen schrieb einen Brief, Sozialdezernent Gerhard Merz protestierte und Stadt-Pressesprecherin Claudia Boje sagt, „mit falscher Sozialromantik“, werde hier „Einschaltquote gemacht“. „Die ganze Stadt“ müsse sich gegen den „Sensationsjournalismus wehren“. Die Stadt fürchtete um ihr Vorzeige-Sozialprojekt. Es gehe auch um die Landeszuschüsse für diese Arbeit, vermutet Filmautor Wiese, der sich inzwischen mit einer Kampagne konfrontiert sieht. Die Bewohner würden „politisch instrumentalisiert“.
Dabei hätte das ZDF die Vorwürfe wahrscheinlich leicht ausräumen können, indem man den Betroffenen den umstrittenen Film einfach gezeigt hätte. Doch nachdem der Streit begonnen hatte, hielt das Justitiariat des Senders den Streifen unter Verschluß. Erst gestern (für die taz nicht mehr erreichbar) wollte das ZDF den Film ausgewählten Journalisten zeigen. Einiges spricht dafür, daß sich die 30-Minuten-Reportage selbst von der reißerischen Ankündigung unterscheidet: Marc Wiese ist unter Kollegen als Autor sensibler Sozialreportagen bekannt und hat für einen Film über ein vietnamesisches Wohnheim in Berlin vor zwei Jahren den ARD-Zivilcourage-Preis bekommen.
Wenn man wegen des guten Rufs des öffentlich-rechtlichen Hauses schon nicht durch die Bank die gleichen Boulevardschmonzetten bringen kann wie die private Konkurrenz, so hat man sich im ZDF vielleicht gedacht, dann müsse man wenigstens auch seine seriösen Filme vermarkten, als seien sie Boulevard-Reißer. Mit fatalen Folgen für die Glaubwürdigkeit. Heide Platen
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