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Die festgeklammerten Lemminge Von Ralf Sotscheck

Hans traute seinen Augen nicht: Unbekannte hatten die Frontscheibe seines Autos, das in der Dubliner Innenstadt geparkt war, mit riesigen Aufklebern zugepflastert. „Ignorieren Sie das nicht“, stand in blauen Lettern über dem Scheibenwischer. Und daneben, kaum kleiner: „Versuchen Sie bloß nicht, wegzufahren.“ Der Wagen war festgeklammert worden.

Die gelben Reifenkrallen sind Dublins neueste Errungenschaft. Hans hatte sein Auto auf zwei am Straßenrand aufgemalten gelben Linien abgestellt, und das tut man nicht. Ein Verkehrspolizist erklärte mir es einmal so: „Bei einer gelben Linie darf man dort auf keinen Fall parken und bei zwei gelben Linien auf gar keinen Fall.“ Das war zwar schon immer so, aber bisher konnten Touristen das getrost ignorieren, denn Strafzettel für Ausländer blieben folgenlos. Hans hatte zu Hause in Köln seinen Flur damit tapeziert.

Weil die Falschparkjäger bisher ohnmächtig mitansehen mußten, wie gemeine Touristen die Strafzettel lachend zerrissen, haben sie es nun gerade auf Autos mit ausländischen Nummernschildern abgesehen. In den Häfen und an Flughäfen werden Flugblätter verteilt, um die Touristen vor der Rache der jahrelang düpierten Parkwacht zu warnen. Schon das zweite Auto, das in Dublin festgeklammert wurde, hatte französische Kennzeichen – und der Besitzer einen tadellosen englischen Fluchwörterschatz.

Den allerersten Wagen erwischte es am Merrion Square, berühmt für seine georgianischen Türen und das frühere Wohnhaus von Oscar Wildes Eltern. Um den kleinen Nissan hatte sich im Nu eine Menschentraube gebildet, und als eine Gruppe japanischer Touristen erfuhr, daß es sich um eine Art irische Uraufführung handelte, zückten sie ihre Kameras.

Die Krallen sind Teil eines größeren Plans der Dubliner Stadtverwaltung, um die Verkehrsprobleme in den Griff zu bekommen. Seit 1980 hat die Zahl der Autos in Irland um die Hälfte zugenommen, jetzt fahren anderthalb Millionen Blechkisten auf der Insel herum – die meisten davon in der Hauptstadt. Mit dem Festklammern der Autos hat man die englische Firma Control Plus beauftragt, die dafür umgerechnet fünf Millionen Mark im Jahr kassiert.

Die 110 Strafzettelverteiler, die von Control Plus übernommen wurden und jetzt „Verkehrsbeobachter“ heißen, sind begeistert. „Früher hat man uns den gestreckten Mittelfinger gezeigt“, sagte einer von ihnen, „jetzt stürzen sie wie die Lemminge aus den Bürohäusern, wenn wir in der Straße auftauchen.“ Control-Plus-Jäger sind sogar mit Motorrollern ausgerüstet, damit sie möglichst viele Wagen lahmlegen können. Haben sie einen erspäht, rufen sie per Handy die Kollegen mit den gelben Geräten, dem Autobesitzer bleiben nur Minuten, um die Karre in Sicherheit zu bringen. Demnächst darf das Unternehmen Autos auch abschleppen, wenn sie ein Verkehrshindernis sind. Über der Dubliner Innenstadt drehen sich bereits 30 Videokameras, die Sünder im Handumdrehen ausfindig machen.

Hans mußte telefonisch seine Kreditkartennummer durchgeben und umgerechnet 170 Mark berappen. Nach einer halben Stunde tauchte der Krallenmonteur auf. „In Irland ist nun alles anders“, strahlte der. „Fast wie bei euch auf dem Kontinent.“

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