Die Dialektik der Bewältigung

Warum im postfaschistischen Westen gelang, was im antifaschistischen Osten mißriet. Die Böll-Stiftung diskutiert über west- und ostdeutsche Vergangenheitspolitik  ■ Aus Potsdam Stefan Reinecke

Ludwig Losacker war Nazi- Gouverneur in Galizien. Er organisierte dort den Holocaust. Nach 1945 kam er kurz in Haft, 1948 wurde Losacker Geschäftsführer der Arbeitgeberverbände der Chemieindustrie, später Direktor des Deutschen Industrieinstituts. In einigen NS-Prozessen trat er als Entlastungszeuge auf. Seine Mitarbeiter schilderten ihn als freundlichen Zeitgenossen und überzeugten Demokraten. Fälle wie der von Losacker, so der Freiburger Historiker Ulrich Herbert, waren nicht die Ausnahme, sondern die Regel. Die Nazieliten kamen nicht nur ungeschoren davon, sie rutschten in der westdeutschen Demokratie wieder in Führungspositionen.

Ein moralischer Skandal. Die interessantere Frage war freilich eine andere, so Herbert auf einer Veranstaltung der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung in Potsdam: Wie konnte aus der postfaschistischen, von (Ex-)Nazis dominierten Republik eine offene, liberale Gesellschaft entstehen? Wo war der Bruch? Gab es einen?

Die Integration der Nazielite geschah mit Druck und Angeboten, die das Neue attraktiv machten. Gewiß, die Entnazifizierung blieb ein halbherziger Versuch, der abgebrochen wurde, weil die Alliierten im Kalten Krieg anderes zu tun hatten. Trotzdem begriffen die NS-Eliten in den Lagern, worum es ging: Opportunismus.

„Wer als Faschist ein Rückgrat gehabt hätte“, so eine Formulierung des Historikers Lutz Niethammer, „hier wäre es ihm gebrochen worden.“ Und später in den 60ern, so Herbert, habe der linksliberale Enthüllungsjournalismus disziplinierend auf die Ex-Nazis gewirkt. Die Angst, enttarnt zu werden, schüchterte ein. Herbert zeichnete ein Bild der westdeutschen Geschichtsverarbeitung voller Widersprüchlichkeiten und Paradoxen. So sei manch NS-belasteter Polizist in der neuen Republik weniger martialisch aufgetreten, um keinen Verdacht zu erwecken: ein „Lob des Nebenwiderspruchs“. Insgesamt, so das Resümee, war die Integration der NS- Eliten „eine unmoralische Politik, die funktioniert hat“.

Zu einem ähnlichen Ergebnis kam Micha Brumlik, der die bundesrepublikanische Politik gegenüber Israel beleuchtete. Die konservativen deutschen Regierungen von Adenauer bis Kohl hätten Israel gegenüber Realpolitik betrieben: Man tat, was dem nationalen deutschen Interesse nutzte. Moral spielte dabei keine Rolle, allenfalls war ein „klassischer Philosemitismus“ im Spiel. Diese Pro-Israel- Haltung der Rechten sei gewiß eine „Externalisierung von Schuld“ gewesen, so Brumlik. Trotzdem hat Israel gerade diese Politik, die Geld und Waffen aus Westdeutschland brachte, genutzt. Dieser Befund war gewissermaßen spiegelbildlich zu Herberts Analyse der Nazi-Integration. Ein Lob der Realpolitik.

Die Linke hingegen gab ein eher düsteres Bild ab. Es war ausgerechnet die SPD-Regierung des Ex-Wehrmachtssoldaten Helmut Schmidt, die 1981 Panzer an Saudi- Arabien lieferte. Die 68er Linke verstrickte sich in ihren universalistischen Idealen. Die Identifikation mit dem palästinensischen Kampf in den 70ern und 80ern gründete in der universellen Identifikation mit allen Opfern. Doch Israel, damals ein fast sozialistischer Staat, als Teil des Imperialismus zu bekämpfen, das verriet eine Verblendung, in denen sich manche 68er als Kinder ihrer Nazieltern zu erkennen gaben.

Und der Osten? Der Historiker Kurt Pätzold, der nicht unwesentlich das Faschismusbild der DDR mitgestaltet hat, schlug einen vorsichtig selbstkritischen Ton an. Die offzielle Überhöhung der kommunistischen Widerstandskämpfer zu Helden erster Ordnung, der jüdischen Toten zu Opfern zweiter Klasse – das sei ein Fehler gewesen, eine „falsche Hierarchisierung“.

Auch der Holocaust sei nicht so recht zu begreifen, wenn man die Nazis orthodox marxistisch bloß als dienstbaren Geist des Großkapitals deute. Pätzold entdeckte in der DDR-Vergangenheitspolitik Fehler und Irrtümer – daß die Stilisierung eines gußeisernen Antifaschismus zur Raison d'être der DDR insgesamt ein Fehler war, kam ihm nicht in den Sinn.

Die moralische, antifaschistische DDR-Geschichtspolitik endete als repressive Staatsideologie – die bigotte, doppelmoralische Bundesrepublik als offene Demokratie. „Wir sind“, so Ulrich Herbert, „noch immer Teil dieser Widerspruchsgeschichte.“ Die Parodoxe von Moral und Realpolitik dürften die Linken noch eine Weile beschäftigen. Immerhin hat es sich Joschka Fischer zur Aufgabe gemacht, Moral und Realpolitik in der rot-grünen Außenpolitik zu versöhnen.