: Aus Alt-Indenern werden Neu-Indener
Im alten Dorf sind sie nur noch zwanzig, und die Plünderer kommen. Das neue Dorf steht schon, bald kommen die Bagger. Die Umsiedlungen im Rheinischen Braunkohlerevier gehen weiter ■ Von Michael Bauchmüller und Markus Lokai (Fotos)
In den letzten Tagen hat Kornelia Sander wieder Plünderer gesehen. „Heut' morgen kam einer, hat unseren Gartenzaun ausgemessen und geschaut, wie man ihn abmontieren kann.“ Schräg gegenüber haben sie in der Nacht zum Samstag die Gehwegplatten gestohlen. Manchmal steigen auch Leute ein in die leeren Häuser gegenüber. Aber das interessiert Kornelia Sander nicht mehr. Denn gegenüber werden jetzt ohnehin nach und nach alle Häuser abgerissen. Seit 45 Jahren lebt Kornelia Sander in Inden – seit ihrer Geburt. Woanders hat sie nie gewohnt, und das will sie auch eigentlich gar nicht. „Ich bleibe solange wie nur möglich“, sagt sie.
Sanders Tage in Inden sind gezählt. Der Ort ist, wie die Nachbarorte Altdorf und Pier, auf einen gigantischen Braunkohleflöz gebaut: Inden II. Keine 20 Kilometer südwestlich vom künftigen und immer wahrscheinlicher werdenden Tagebau Garzweiler II machen die Indener das durch, was den Leuten aus Orten wie Kuckum, Immerath und Holzweiler noch bevorsteht, die auf dem Gebiet von Garzweiler II liegen: Abschied nehmen.
Im Tagebau Inden II, irgendwo zwischen Köln und Aachen und in direkter Nachbarschaft zur alten Herzogstadt Jülich, lagern mehr als eine halbe Milliarde Tonnen des braunen Goldes. Ab 2005 wühlen die Bagger der RWE-Tochter Rheinbraun, und erst 2035 sollen sie damit aufhören. Im Rheinischen Braunkohlerevier, wie die Gegend heißt, sind die Indener nicht die ersten, die weichen müssen. Seit 1948 mußten über 32.000 Menschen der Kohle halber umziehen.
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Eben war Peter Kurth noch mal bei den Arbeitern, die in der Mühlenstraße ein Haus abreißen. „Ich mach' jeden Tag meine Rundgänge“, sagt der Rentner. „Ob hier auch alles seine Ordnung hat.“ Dann kommt er daher wie ein Orts-Sheriff, mit roter Baseballkappe und grimmigem Blick, und am liebsten würde er die Leute von Rheinbraun dann alle abknallen. Die haben nämlich, schimpft Kurth, sein Dorf auf dem Gewissen: Rheinbraun betreibt die riesigen Tagebaue in der Region, auch die bei Garzweiler, Hambach und Frimmersdorf. Rund 12.000 Menschen in der Region hat die Firma beschäftigt. Nicht aber Peter Kurth. Der fuhr früher Lastwagen für eine Spedition und kann sich den Widerstand gegen den Braunkohlenkoloß erlauben; den Job kann er nicht mehr verlieren, auch kein Vermögen.
Und während sein Heimatdorf Haus für Haus verschwindet, schwört er sich, nicht so schnell nachzugeben wie viele seiner Nachbarn. „Während die anderen ihre Häuser hier abreißen lassen, bau' ich meins weiter aus“, sagt er. Schließlich hat er auch noch seine Brieftauben zu versorgen. Und die sind nun mal gewohnt, nach Inden zurückzukehren, nicht in ein Braunkohleloch. Außer Peter Kurth harren nur noch wenige andere im Ort aus. Kurth zählt sie an den Händen ab, die Leute kennt er beim Namen. „Alles alte Indener.“ Schließlich kommt er auf zwanzig.
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Den Marmorbrocken hat Pfarrer Hans-Otto von Dannwitz gerade vom Boden der Kirche aufgelesen. Noch ist er unschlüssig: ihn mitnehmen oder wieder fallen lassen? „Ich wollte“, sagt er, „noch eben ein paar Sachen aus der Kirche holen.“ Dannwitz' Mundwinkel spannen sich zu einem Lächeln, das nicht gelingen will. Sechs Jahre lang war er Pfarrer in den Gemeinden Inden und Altdorf. Jetzt geht er durch die Trümmer seiner Kirche, an einem Sonntag. Der Marmorboden ist herausgerissen, der Altar demontiert, die Bänke weg. Säulen und kunstvolle Mosaik- Fenster erinnern daran, daß die Kirche schon bessere Zeiten gesehen hat. Ende vergangenen Jahres, am 28. Dezember, hatte Pfarrer Dannwitz mit den Alt-Altdorfern hier die letzte Messe gefeiert. „Die schwersten Momente“ für den jungen Priester. In den nächsten Wochen wird die Kirche abgerissen, wann genau, ist noch nicht raus.
„Mit den Kirchen“, sagt Indens evangelischer Pfarrer Wolfgang Krosta, „sterben für viele Leute die Orte erst richtig.“ Dabei ist schon so vieles tot: Telefonzellen, in denen noch ein Telefonbuch, aber kein Telefon mehr hängt; Gartenzäune, hinter denen kein Haus mehr steht; ein alter Friedhof fast ohne Gräber. Mauern vor Fenstern und Türen, die verhindern sollen, daß sich in den Häusern Plünderer oder Obdachlose breitmachen; abmontierte Ortsschilder; Warnungen vor Rattengift: Denn Ratten hätten in Inden ein gefundenes Fressen.
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Aus der Hosentasche seines blauen Overalls mit Rheinbraun- Logo holt Wilfried Martinett den Schlüssel zum Portal der Indener Pfarrkirche. „Ich sitze hier wirklich zwischen allen Stühlen“, sagt Martinett, während er die schwere Holztür aufdrückt. Über 27 Jahre lang hat er abends, werktags wie feiertags, die Orgel der alten Pfarrkirche gespielt. Ehrenamtlich, versteht sich. Seine Brötchen verdient Martinett, indem er für Rheinbraun im geländegängigen Bus Besucher durch den Tagebau fährt. Auch den Indener Pfarrgemeinderat hat er schon zur Spritztour mitgenommen. Daß er für die Firma arbeitet, die es auf seine Kirche abgesehen hat, ist „eine verzwickte Situation“, findet Martinett.
Am 3. Mai hat er die letzte Messe auf der alten Orgel gespielt. Irgend jemand hatte damals mit Tesafilm ein Blatt an die Tür geheftet: „Herr, verzeih denen, die Inden und besonders unsere Gotteshäuser zerstören.“ Inzwischen hängt der Zettel nicht mehr, ebensowenig das Plakat, das Kommunionkinder gemalt hatten: „Gott baut ein Haus, das lebt!“
Martinett hat jetzt einen neuen Platz in einer neuen Kirche. Die steht, fast in Sichtweite der alten, keine zwei Kilometer entfernt in Inden/Altdorf. Der Ort, mit dem Rheinbraun Indener und Altdorfer für das Verlorene entschädigt. Der „Umsiedlungsstandort“.
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Als 1991 klar war, daß die beiden Orte in Rübenfelder versetzt werden würden, gehörte Indens Gemeindedirektor Manfred Halfenberg, Verwaltungschef für Inden, Altdorf, Pier und vier weitere Ortschaften, zu den ersten, die handelten. Er ließ ein neues Rathaus im neuen Ort bauen, das alte fiel der Abrißbirne zum Opfer. Ein schmuckes Rathaus, das neue. Bei der Finanzierung hatte Rheinbraun diskret geholfen und der Gemeinde für gutes Geld ein Gebäude in einem benachbarten Ort abgekauft. Freilich dürfen die Indener das Haus weiter zu Gemeindezwecken nutzen. Halfenberg ist sicher, es irgendwann einmal „zu einem symbolischen Preis“ zurückkaufen zu dürfen. Rheinbraun schaut in solchen Fällen nicht aufs Geld.
Nein, große Widerstände gegen den Tagebau habe es in Inden nie gegeben, erzählt der Gemeindedirektor. Schließlich habe man schon seit Jahrzehnten gewußt, daß der Ort „auf der Kohle sitzt“, und schließlich sei ja auch ein beträchtlicher Teil der Gemeindemitglieder bei Rheinbraun beschäftigt. Und außerdem, findet Halfenberg, der selbst zehn Jahre im Bergbau arbeitete, „haben wir ja auch ganz schön was daraus gemacht“.
Inden/Altdorf, das Backsteindorf, eine Siedlung wie viele andere. Alles ist neu, sauber, geordnet. Fast alle Häuser, selbst die beiden Kirchen: roter Backstein, geklinkert. Wer sein Haus in den alten Orten gewinnbringend an Rheinbraun verkaufen konnte, hat sich ein klobiges Eigenheim geleistet. Andere finden sich in den dreigeschossigen Mehrfamilienhäusern an der Hauptstraße wieder: Ihre alten Häuser haben keine höhere Abfindung erbracht. Junge Bäume säumen Straßen, auf denen die letzte Teerschicht noch fehlt, Kanaldeckel lugen gut zwei Zentimeter heraus. In der näheren Umgebung: im Süden die Autobahn, die Köln mit Aachen verbindet, im Westen das Kraftwerk, und dann noch – in absehbarer Zeit – der Tagebau im Südosten. „Bermuda-Dreieck“ wurde die Gegend von denen genannt, die nicht dorthin umziehen wollten.
Mittlerweile regt sich wieder dörfliches Leben in Inden/Altdorf – zusammengeschweißt aus zwei Dörfern, die sich, so Gemeindedirektor Halfenberg, „eigentlich nie gut riechen konnten“. Sogar das Vereinsleben erwacht wieder. Der Versuch, nicht nur die Orte, sondern auch deren Vereine zu vereinen, schuf interessante Kreationen: Den Schützenverein St. Sebastianus/St. Pankratius Inden/Altdorf 1424/1433 etwa, der in diesem Jahr erstmals in ein und derselben Uniform marschiert, oder den FC Inden/Altdorf 04/21. Bei den Tambourcorps der beiden Orte scheiterte die Vereinigung allein daran, daß die einen nach Noten, die anderen aber nach Zahlen spielten.
„Wir haben das gut hingekriegt“, davon ist Halfenberg überzeugt, und schließlich seien fast alle – der guten Dorfgemeinschaft sei Dank – mitgekommen, bis auf einige, die woanders hinzogen. „Fremdgezogene“, wie der Gemeindedirektor sie nennt. Und bis auf ein paar „etwas seltsame“ Leute, die noch immer im alten Ort blieben. „Die waren aber immer schon, wollen wir mal sagen, unauffällig auffällig.“ Eben anders.
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Mit soviel Erfahrung im Umsiedeln wird die Gemeinde Inden das dritte Dorf wohl auch noch schaffen: Pier. Bis zum Jahr 2015 soll Pier, 1.500 Einwohner groß, geräumt sein. Ganz so pragmatisch wie in Inden/Altdorf geht Gemeindedirektor Halfenberg an dieses Unterfangen nicht heran. Bei Pier wird er nachdenklich – es ist sein Heimatort. „Kürzlich ist mir klargeworden, daß ich ja dann auch dran bin“, erzählt er. Jahrelang habe er „das Thema erfolgreich verdrängt“.
Doch nun schließen auch in Pier die ersten Geschäfte, wird nicht mehr investiert, nicht mehr gebaut. Eine Bürgerinitiative hat sich gegründet, doch die kämpft nicht gegen den Tagebau, sondern dagegen, ins „Bermuda-Dreieck“ umgesiedelt zu werden. Mit dem Tagebau, sagt der Sprecher der Initiative, Karl-Heinz Schnitzler, habe man sich abgefunden. Schließlich habe man ihnen ja gesagt, daß der Braunkohletagebau notwendig ist. Dann wird es wohl auch so sein.
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