: „Moralischer Schwachsinn“
Leben ist ein langer, nervöser Marathon: Sandra Strunz inszeniert die Bio-graphie von Friedrich Glauser als reflektierten Atem ■ Von Christiane Kühl
Der Brockhaus bringt es auf den Punkt: „Glauser, Friedrich, geb. Wien 4. 2. 1896, gest. Genua 2. 12. 1938, Schweizer Schriftsteller – führte ein unstetes Leben.“ Nun ist es aber so, daß sich selbst ein Schweizer Lebenslauf nicht auf einen Punkt bringen läßt. Der Werdegang Friedrich Glausers, in seiner Heimat durch die Wachtmeister Studer-Krimis ein Volksautor und bei uns so gut wie unbekannt, ist nicht einmal linear zu fassen. Frauenverführer, Fremdenlegionär, Gärtner, Morphinist, Tellerwäscher, Betrüger, Dauerpatient, Katastrophenproduzent und Suizidexperimentator nennt die Ankündigung von Glauser ihn. Eine gewisse Identitätslosigkeit bescheinigt Sandra Strunz dem Streuner und ein Leben am Anfang des Jahrhunderts, das unserem am Ende gar nicht fern ist: ständig auf Reisen, in Hetze und voller Sehnsucht, irgendwo anzukommen.
Biographien gilt Sandra Strunz– Hauptinteresse bei der Regiearbeit. 1997 inszenierte sie auf Kampnagel Meine erste Frau hieß Zwieback – Das Leben des Armand Schulthess, in diesem Jahr entstand Glauser als Koproduktion von Kampnagel und der Kaserne Basel, wo das Stück im März uraufgeführt wurde. Konventionelle Dramentexte reizen die Dreißigjährige nicht: „Da habe ich Probleme, mir Freiraum als Regisseurin zu nehmen.“ Ihr Erzähltheater, das Rollen aufbricht, Charaktere überlagert und das Geschehen oszillierend zwischen scheinbarer Objektivität und Subjektivität zeigt, entsteht während der Proben. „Theater ist Jetzt-Zeit, die Bühne eine Spielwiese. Man muß mit den Schauspielern die Jetzt-Zeit aufbrechen.“
Glauser erzählt im ersten Teil vom nervösen 20jährigen, der keine Nähe aushalten kann, der „wie eine Kugel im Flipperkasten durchs Leben schießt.“ Es folgt der Eintritt in die Fremdenlegion, Drogenexzesse, später die Einweisung in die Psychatrie. Dort wird er ruhiggestellt, und entsprechend ruhiger ist der zweite Teil des Stücks, der von Glausers Träumen, Alpträumen und Erinnerungsarbeit bestimmt ist.
Sieben Romane, 100 Erzählungen und mehr als 1000 Briefe hat der Gehetzte hinterlassen. Das schriftstellerische Werk, die Korrespondenz mit dem Vater und die psychatrischen Gutachten, die ihm „moralischen Schwachsinn“ bescheinigten, dienten als Material für die Produktion des fünfköpfigen Ensembles, das zwei Stunden zwischen Feldbetten agiert. „Armes Theater“ sei das, aber kein Dokumentartheater. „Wir wollten kein Abbild, sondern den Atem von Glauser einfangen.“
Daß das gelungen ist, legen die Kritiken sowie die Einladung zum Regiewettbewerb der Wiener Festwochen nahe. Die Bruchbiographie des Friedrich Glauser wird in einer gebrochenen, aber dichten Bühnenerzählung gespiegelt, die sich vom Fragment nicht abgrenzt: „Wir müssen doch alle an jeder Stelle neu sein“, sagt Sandra Strunz. Weshalb sie auch schon längst am nächsten Projekt arbeitet: einem Stück nach einer Romantrilogie von Agota Kristof. Und vorher noch die Tochter von den Großeltern abholt.
Fr, 13./Sa, 14. u. Di, 17. – Do, 19. November, 19.30 Uhr, Kampnagel k6
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen