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Nudeln für den Monopolisten

Der Nahrungsmittelengpaß in Rußland hat auch mit landeseigenen Strukturen zu tun. Der Generaldirektor des Kombinats „Don“ will die Krise für sich nutzen  ■ Von Barbara Kerneck

Moskau (taz) – „Schont euren Chef, der nächste könnte schlimmer sein“ steht über dem Schreibtisch Anatoli Iwanowitsch Chriptschenkos. Für heutige russische Verhältnisse hat Chriptschenko den idealen Job. Er ist Generaldirektor des Nahrungsmittelkombinats „Don“ im Städtchen Lebedjan, das zum Lipezker Schwarzerdbezirk gehört.

Über die Produkte seiner in jeder Hinsicht vorbildlichen Fabrik mit ihren 460 Angestellten, der größten ihrer Art in Rußland, würde sich jedes europäische Reformhaus freuen. Hier stellt man alle Nahrungsmittel ohne chemische Zusätze her: Johannisbeersaft mit oder ohne Minze, Birkenwasser mit Wermutkraut oder Honig, Kürbissaft gegen Osteoporose, Obstkonserven, Saft, Fisch (geräuchert, mariniert und gesalzen), Wurst, Wein, Wodka und Liköre. Außerdem verfügt das Unternehmen über eine kleine Nudelwerkstatt, eine Experimentierfarm, eine Bäckerei und eine große Bau- und Renovierbrigade. 1995 wurde der Betrieb mit dem Diplom „Führer der russischen Wirtschaft“ ausgezeichnet.

Und trotzdem ist Chriptschenko heute schlechter Laune. Heute früh hat man ihm die Ausführungsbestimmungen für das neue Wodkamonopol der Regierung ausgehändigt. Danach muß jede Sekunde verzeichnet werden, in der das Wodkafließband geht oder steht.

Eigentlich ist Anatoli Iwanowitsch ja krisengestählt. Er übernahm das Kombinat 1985 als reine Wodkafabrik. Wenige Wochen später erließ Michail Gorbatschow das Gesetz über die Nüchternheit, und die Wodkaproduktion wurde generell verboten. Damals verlegte sich das Kombinat zunächst auf Obstsäfte. Was ein richtiger Sowjetmanager ist, der wächst an jedem bürokratischen Hindernis – und mit ihm seine Produktpalette.

Noch verkauft das Kombinat „Don“ seine Erzeugnisse zu Schleuderpreisen. Eine Wurst, für die man in Moskau unter den Bedingungen der heutigen Krise 100 Rubel nehmen könnte, kostet hier nur dreißig. Auf die Frage, warum er seinen Absatzmarkt nicht erweitert, redet sich Chriptschenko auf die hauptstädtische Mafia heraus. In der Megapolis hat sich ein halbkriminelles System der Nahrungsmittelversorgung etabliert.

Was Anatoli Iwanowitsch verschweigt: Per Statut zappelt sein Betrieb im Netz eines einzigen Abnahmemonopols. Das trägt den Namen „Bezirks-Verbraucher- Union“, unterhält im Bezirk 1.235 Geschäfte – und bezahlt seinen Lieferanten nicht immer.

In diesem Jahr hatte Chriptschenko schon die Erlaubnis erkämpft, seine Erzeugnisse auch den Sankt Petersburgern schmackhaft zu machen. Ein kleines Geschäft in der Newa-Stadt war bereits liebevoll renoviert, da türmte sich das nächste Hindernis auf. Der Lipezker Gouverneur verbot die Ausfuhr von Lebensmitteln über die Grenzen des Bezirkes hinaus. Die Erfahrung lehrt: Sobald sich in Rußland eine Versorgungspanik abzeichnet, errichten die landwirtschaftlichen Überflußregionen Barrieren auf dem Wege ihrer Erzeugnisse zum Verbraucher.

Die schlimmste Folge der Sperre für Chriptschenko: Plötzlich kann er die zur Produktion unbedingt notwendigen Materialien nicht mehr durch Deals mit anderen Regionen beschaffen. „Bald ist bei uns das Pektin alle, bald der Zucker, bald der Fisch, bald sind es die Deckel, dann die Gläser und dann wieder der Zement“, leiert er herunter. Auch müssen die Kaviarlieferanten auf Kamtschatka nun auf die vitaminhaltigen Konserven verzichten, die ihnen das Kombinat „Don“ im Austausch lieferte. Das macht Chriptschenko aggressiv: „Soll ich vielleicht auch noch den Fischlaich selber legen?“

Im Grunde aber ist der Generaldirektor optimistisch. Bevor nämlich die Exportbarrieren angeordnet wurden, begann dem Kombinat die Krise schon zu nützen – die Preissteigerungen und die erhöhte Nachfrage nach einheimischen Lebensmitteln. Chriptschenko deutet an, daß sich die Straßensperren auf dem Verhandlungswege früher oder später unterlaufen ließen. Danach, so hofft er, könne sein Betrieb als Motor für die landwirtschaftliche Entwicklung der Region funktionieren. Er hat keine Vorurteile in bezug auf landwirtschaftliche Eigentumsformen: „Ich werde alles aufkaufen, Getreide, Obst und Gemüse, was die Leute hier nicht loswerden. Und es ist mir egal, ob es sich dabei um die Ernte einer Kolchose handelt, eines Privatfarmers oder meiner eigenen Tante.“ Chriptschenko träumt von einem wunderbaren neuen Monopol – an dessen Spitze er stünde.

Den Einwand, daß der Privatfarmer der nahen Zukunft vielleicht lieber an jemanden anderes verkaufen würde, wischt der Generaldirektor mit einer Handbewegung vom Tisch: „Auch dann wird er zu mir kommen müssen – weil ihm nämlich gar nichts anderes übrigbleiben wird.“

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